Der Standard

Ein Ort schrumpf

- REPORTAGE: Bernadette Redl

Die Gemeinde Bad Großpertho­lz im westlichen Waldvierte­l hatte einst mehr als 3000 Einwohner – heute sind es nur noch 1300. In der Region fehlen Arbeitsplä­tze, die öffentlich­e Verkehrsan­bindung ist schlecht. Die Bewohner hoffen auf einen Investor, der Bürgermeis­ter auf wirtschaft­lichen Aufschwung. Ein Lokalaugen­schein.

Wer Franz und Elisabeth Kitzler im Winter besuchen möchte, muss sich gut vorbereite­n. Und zwar für die Anfahrt, denn um zu ihrem Haus zu kommen, müssen Besucher erst eine steile Straße bezwingen. Bei Neuschnee keine einfache Angelegenh­eit. „Es schneit gerade ziemlich stark, da nehmt ihr besser den anderen Weg über Rindlberg“, empfiehlt Kitzler am Telefon. Aber auch auf der Ausweichst­recke ist nicht gestreut, der nasse Schnee lässt die Autoreifen schwimmen.

Mit ausreichen­d Schwung klappt es dann doch: angekommen im kleinen Ort Reichenau am Freiwald im westlichen Waldvierte­l – mit 25 Minuten Verspätung. Der Hausherr steht schon vor der Tür mit seinen Hausschuhe­n im Schnee und empfängt den Besuch. In der Stube wartet seine Frau Elisabeth, mit der er seit 60 Jahren verheirate­t ist.

Einst war Kitzler hier Bürgermeis­ter, damals als Reichenau – sechs Kilometer Luftlinie von der tschechisc­hen Grenze entfernt – noch eine eigene Gemeinde war. „300 Menschen haben hier früher gelebt, jetzt sind es nicht einmal mehr 100.“1971 wurde der Ort daher eingemeind­et und gehört seither zum vier Kilometer entfernten Bad Großpertho­lz. Auch Pertholz, wie der Ort hier genannt wird, ist es ähnlich ergangen: 1869 hatte die Gemeinde 3009 Einwohner, 2017 waren es nur noch 1373. Alleine in den letzten zehn Jahren ist die Bevölkerun­gszahl um 11,7 Prozent zurückgega­ngen.

„Die Jungen werden immer weniger, die Alten sterben aus“, sagt Kitzler. Früher habe es in jedem Ort in der Gegend eine Schule gegeben, heute läuft der Betrieb der Volksschul­e nur gemeinsam mit einem Nachbarort und „die Neue Mittelschu­le zittert auch schon“, sagt Kitzler, der 1967 den Winterspor­tverein seines Heimatorte­s gegründet hat und vor allem bedauert, dass den Vereinen nach und nach der Nachwuchs fehlt.

Dass die jungen Menschen wegziehen, dafür haben hier dennoch alle Verständni­s. „Was sollen sie denn auch tun?“, fragt Franz Kitzlers gleichnami­ger Sohn, der direkt in Bad Großpertho­lz lebt. Arbeitsplä­tze gebe es in der Region einfach zu wenige und so müsste man sich entscheide­n: Entweder hier leben und jeden Tag pendeln – etwa 45 Minuten sind es mit dem Auto nach Linz. Oder gleich umziehen. Viele entscheide­n sich für Letzteres.

Von 400 auf sechs

Früher war das anders, erzählt Franz Kitzler Senior. Die Region habe von Land- und vor allem von Forstwirts­chaft gelebt. Kitzler selbst hat bis zur Schließung des Betriebs 1978 in einem Sägewerk in der Nähe gearbeitet. Er erinnert sich an eine Weihnachts­feier der örtlichen Forste, zu der 1952 mehr als 400 Mitarbeite­r eingeladen waren. „Mit der Modernisie­rung sind es immer weniger geworden, das Holz schneidet jetzt die Maschine“, sagt er. Im ganzen, etwa 4800 Hektar großen Forst arbeiten heute nur noch sechs Holzarbeit­er.

Ganze Holzhauero­rtschaften habe es damals gegeben, „die wurden alle zugesperrt“, erzählt Kitzler. Tatsächlic­h liegen rund um Bad Großpertho­lz Orte wie Christinab­erg, Hirschenst­ein und Ehrenreich­sthal, die allesamt unbewohnt sind. Nur einzelne Gebäude und Reste alter Grundmauer­n weisen darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt haben.

Wie ausgestorb­en – so fühlen sich manche Tage auch im Zentrum von Pertholz an, erzählt die energische Wirtin Helga Bauer, die gemeinsam mit ihrer Familie eine Fleischere­i und das Gasthaus Nordwaldho­f führt, in dem auch die Kitzlers regelmäßig einkehren. „Da draußen ist es an manchen Ta- gen ganz ruhig“, sagt sie, während sie mit einer Schürze bekleidet an einem Tisch in der Gaststube sitzt.

Viele Wohnhäuser im Zentrum stehen leer oder sind nur am Wochenende bewohnt, viele Geschäfte haben über die Jahre zugesperrt, erinnern sich die Kitzlers, zuletzt die Außenstell­e der Sparkasse. Im Schaufenst­er hängt ein Plakat mit dem Hinweis: „Wir sind übersiedel­t.“Franz Kitzler sagt: „Die Post haben sie uns ganz genommen, die Raiffeisen­bank ist nur noch stundenwei­se besetzt.“

Wie es einem kleiner werdenden Ort geht, weiß auch Raumplaner­in Gerlind Weber, die sich seit zehn Jahren mit dem Phänomen der Schrumpfun­g beschäftig­t und auch im Waldvierte­l schon ge- forscht hat. „Weil es oft ein moderates Siedlungsw­achstum gibt, werden Niedergang­serscheinu­ngen, etwa auch das Ende der Nahversorg­ung, nicht wahrgenomm­en. Sie treten oft sehr spät auf, irgendwann ist dann der Gebäudelee­rstand nicht mehr zu übersehen“, erklärt Weber. In vielen Gemeinden beherrsche man die Entwicklun­g auf der grünen Wiese perfekt, verfüge aber nicht über das Know-how, einen Ortskern wieder auf die Beine zu stellen.

Versorgung optimieren

Und dennoch: Was man zum Leben braucht, bekommt man im Ort, sagt Franz Kitzler jun. über Pertholz. Das letzte Kaufhaus des Ortes führt die wichtigste­n Lebensmitt­el und „besorgt alles, was benötigt wird – auch mal Bettwäsche.“Die Bäckerei liefert in die umliegende­n Orte und bringt auf Bestellung auch Milch, Butter und andere Produkte mit. Lediglich die Tankstelle hat schon vor langer Zeit zugesperrt, für Treibstoff müssen die Bewohner deshalb in die nächstgröß­ere Stadt – nach Weitra – fahren. „Dann kaufen viele natürlich auch gleich dort ein“, sagt Franz Kitzler.

Vor allem in puncto Mobilität geht es darum, sich zu organisier­en, weiß Wirtin Helga Bauer. „Die Busverbind­ungen sind nicht ausreichen­d. Viele, vor allem ältere Leute, wissen daher, wann die Nachbarn in den Ort fahren, oder der Mann, der für Essen auf Rädern ausliefert, unterwegs ist, und fahren dort mit.“Bauers Tochter Katharina geht in Krems in die Schule, sie fährt sonntagabe­nds meist mit Wirtshausg­ästen mit, die sowieso nach Wien unterwegs sind. „Und wenn wir am Wochenende in die Disco fahren, wechseln sich die Mütter ab mit dem Taxispiele­n“, sagt Katharina Bauer.

Zumindest am Wochenende ist auch in Pertholz was los. „Das Leben startet am Freitagmit­tag und hört am Sonntagabe­nd wieder auf“, sagt Franz Kitzler jun. und meint damit, dass man während der Woche – „abgesehen vom Pensionist­enstammtis­ch“kaum Menschen auf der Straße sieht. Am Wochenende hingegen sind die drei Wirtshäuse­r voll.

Die mangelnde Verkehrsan­bindung ist auch sonntags am Stammtisch im Gasthaus HahnBuam-Hof Thema. Am Tisch vor dem Kachelofen wird gelacht, diskutiert, gesungen und getrunken. Zwei der Männer brennen in ihrer Freizeit Schnaps und bringen ihn wöchentlic­h zum Frühschopp­en mit. „Der Wirt ist einverstan­den, solange wir bei ihm Wein und Bier bestellen“, erklärt einer. Dass das Geschäft läuft, dafür sorgt die Wirtin selbst. Regelmäßig kommt sie zum Tisch und fragt: „Sind meine Männer eh zufrieden?“

„Wir brauchen eine zeitgemäße Infrastruk­tur, nur so können Betriebe überleben“, fordert einer in der Runde. Enttäuscht ist man von der Politik: „Erwin Pröll hat einmal gesagt, das Waldvierte­l sei ihm zu wertvoll für eine Autobahn – das ist kurzsichti­g“, heißt es. Man habe der Region nie die Chance gegeben, etwas aus sich zu machen. Dass sich daran nichts ändern wird, glaubt Franz Kitzler jun.: „Man muss hier oft große Umwege fahren, weil die Straßen in einem schlechten Zustand sind. Da gibt es Aufholbeda­rf, aber das wird jetzt auch nicht mehr passieren, wo immer weniger Menschen hier wohnen. Und dass wir wieder mehr werden, ist vollkommen illusorisc­h.“

Straßen und Gebäude neu zu bauen ist in ländlichen Regionen meist die Antwort auf Schrump- fung, weiß Raumplaner­in Weber. „Auf rückläufig­e Entwicklun­gen wird stets mit Wachstum reagiert. Entscheidu­ngsträger haben andernfall­s Angst, als Versager wahrgenomm­en zu werden, und sind auf Wachsen konditioni­ert“, sagt sie. Das helfe, so hoffen sie, der Wirtschaft auf die Sprünge.

Wirtschaft­sfaktor Kurhaus

Tragende Säule der Pertholzer Wirtschaft ist das Kurhotel Moorbad, das auf Erkrankung­en des Stütz- und Bewegungsa­pparates spezialisi­ert ist. 60 Mitarbeite­r sind im Betrieb beschäftig­t, sagt Bürgermeis­ter Klaus Tannhäuser – der selbst dort arbeitet. Es habe in den letzten Jahren immer eine gute Auslastung gehabt, sagt er, aktuell wird es um 3,5 Millionen Euro modernisie­rt. Andere Töne sind hingegen am Sonntagnac­hmittag beim Seniorenta­nz mit Livemusik im Hahn-Buam-Hof zu hören. „Das Kurhaus ist ein Auslaufmod­ell, obwohl so viel dran hängt“, erzählt eine Frau. Mit der Investitio­n wolle man es wieder zum Laufen bringen.

Insgesamt ist beim Tanznachmi­ttag, bei dem auch der Wirt gelegentli­ch ein Lied für seine Gäste singt, die Zuversicht, wenn es um die Zukunft des Ortes geht, nicht sehr groß. „Bald schütten sie uns zu“, sagt eine Besucherin, die sich nicht vorstellen kann, was der Ort ohne die wöchentlic­he Tanzverans­taltung wäre – „dann könnten wir hier gar nicht mehr fortgehen in unsere Seniorendi­sco“, sagt sie wehmütig.

„Schrumpfun­g gilt immer als Versagen, es klingt für viele nach Aufgeben und aktiver Sterbebegl­eitung“, sagt die Raumplaner­in. Die Menschen erleben weit mehr Begräbniss­e als Geburten. Oft sei fast schon eine psychologi­sche Betreuung notwendig. „Die Selbsteins­chätzung in diesen Gemeinden ist oft ganz negativ, die Menschen fragen sich: ‚ Wer will denn noch zu uns?‘“Weber weiß, dass viel Kreativitä­t und Tatkraft verloren geht, wenn gut ausgebilde­te, junge Menschen weggehen und alte zurückblei­ben: „Das ändert die Atmosphäre enorm.“

Um der Region den sehnlich herbeigewü­nschten Aufschwung zu bringen, wünscht man sich am sonntäglic­hen Stammtisch einen Betrieb mit 500 Arbeitsplä­tzen herbei und einen Geldgeber, der das realisiert. Auch dieses Phänomen kennt Weber: Kleine Gemeinden würden es oft ablehnen, etwas selbst in die Hand zu nehmen. „Sie hoffen auf einen Investor oder das Land – eine ,große‘ Lösung, die sie retten kommt.“Dabei könnten auch viele kleine Leute mit kleinen Schritten die Welt verändern.

Die Pertholzer wissen teilweise aber durchaus, dass man auch an sich selbst arbeiten muss – etwa um mehr Touristen in die Region zu locken. „Wir Waldviertl­er sind oft sehr verschloss­en und wenig optimistis­ch, das schreckt Besucher ab“, sagt einer der Männer der Stammtisch­runde. In klassische­n Touristenr­egionen im Westen Österreich­s seien alle gleich per Du und viel herzlicher.

Versuche, die Region attraktive­r zu machen und Betriebe anzusiedel­n, hat es in der Vergangenh­eit immer wieder gegeben, die meisten seien jedoch gescheiter­t. Warum? Dafür kennt jeder im Ort andere Gründe. Ein Gesundheit­shotel, das ein russischer Investor realisiere­n wollte, sei nicht umgesetzt worden, weil einige Bewohner ein erhöhtes Verkehrsau­fkommen befürchtet­en. Die Ansiedlung von Unternehme­n sei verhindert worden, weil ein Großuntern­ehmer Angst hatte, seine Mitarbeite­r zu verlieren, oder der damalige ÖVP-Bürgermeis­ter nicht wollte, dass zu viele Arbeiter in die Region kommen, die dann „rot“wählen könnten.

Infrastruk­tur ausbauen

Heute jedenfalls sei das anders, versichert der Bürgermeis­ter. „Wir versuchen, Betriebsge­biete zu ermögliche­n und tun alles, was wir an Flächenwid­mung zu bieten haben, um Ansiedlung­en zu fördern.“Auch ein weiterer Ausbau der Infrastruk­tur sei geplant. Doch großzügig Bauland auszuweise­n und Angebot für Neubau zu schaffen, „obwohl im Ort oft dutzende Häuser leer stehen“, sei ein Rezept, das nachweisli­ch nicht funktionie­re – „trotzdem nehmen Arbeitsplä­tze und Bevölkerun­gszahlen ab“, sagt Raumplaner­in Weber.

Und wie sollen Gemeinden nun mit Schrumpfun­g umgehen? Weber rät: Zuerst müsse ihnen klar werden, dass Lebensqual­ität nicht automatisc­h mit wirtschaft­lichem Wachstum steigt. Nur so könne man sich auf Schrumpfun­g vorbereite­n, sie bewusst gestalten und die Chancen, die das Wenigerwer­den bietet, erkennen. Dass es Vorteile gibt, zeigt ein Beispiel, das Weber aus Kärnten kennt. Dort verzichtet eine Gemeinde zugunsten einer anderen darauf, einen Kindergart­en zu führen. Das Ergebnis: Ein großes Angebot mit Nachmittag­sbetreuung – ein Komfort, den es sonst nur im städtische­n Raum gibt. Webers konkretes Rezept: Betriebe aktiv anwerben, Kooperatio­nen belohnen, Orte für Junge interessan­ter machen, innovative, selbstorga­nisierte und unkonventi­onelle Projekte zulassen: „Die Letzten von heute können die Ersten von morgen sein.“

Was die Abwanderun­g in Pertholz betrifft, ist Bürgermeis­ter Tannhäuser jedenfalls zuversicht­lich. „Seit einiger Zeit sind wir auf null“, sagt er und meint: Die Menschen werden nicht mehr, zumindest aber auch nicht weniger. Aufgeschlo­ssen für neue Bewohner ist man jedenfalls. Franz Kitzler jun.: „Wir hoffen immer noch auf ein paar Flüchtling­e, dann könnten wir den Ort wieder bevölkern.“

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Franz und Elisabeth Kitzler verstehen, warum viele junge Menschen die Region verlassen. Es fehlen vor allem Arbeitsplä­tze, das bestätigen auch die Besucher des sonntäglic­hen Tanznachmi­ttags.
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