Der Standard

Ein Ausblick zum Republiksj­ubiläum

Wie sieht unsere Republik in 100 Jahren aus – beziehungs­weise: Gibt es sie dann überhaupt noch? Bei einer Diskussion darüber im Burgtheate­r waren sich die Gäste einig: Sich auf der Gegenwart auszuruhen ist keine Option.

- Lara Hagen

Wien – „Je weiter man zurückblic­ken kann, desto weiter kann man vorausscha­uen“soll Winston Churchill einst gesagt haben. Dieses Credo galt auch am Sonntag im gut gefüllten Burgtheate­r. Wie unsere Republik in 100 Jahren aussehen wird, war dabei die Frage des Tages bei der vom Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen, der ErsteStift­ung, dem Burgtheate­r und dem STANDARD organisier­ten Matinee im Rahmen der Reihe „Europa im Diskurs“. Eine Frage, die – darüber herrschte auf dem Podium Einigkeit – kaum zu beantworte­n ist, die aber in spannenden Handlungsa­nleitungen für die Gegenwart resultiert­e.

Visionen via Video

Eine Vision für die Zukunft sollten aber nicht nur die Gäste auf dem Podium entwickeln. Erstmals wurden via Video auch Ideen, Hoffnungen und Sorgen vieler Bürger auf die Bühne projiziert. Eine demokratis­che Gesellscha­ft mit sozialem Ausgleich in einem vereinigte­n Europa, in dem Offenheit und Toleranz gelebt werden und weniger gejammert wird, wünschten sich die auf der Straße befragten Menschen. Gleichzeit­ig äußerten viele aber die Sorge, ob ihre Visionen tatsächlic­h auch Zukunft haben.

Diese Besorgnis trug Moderatori­n Lisa Nimmervoll gleich an die Podiumsgäs­te weiter: Was können wir tun, damit diese Regierungs­form auch noch im Jahr 2118 besteht und gelebt wird?

Der ehemalige Bundespräs­ident Heinz Fischer bemühte Optimismus: Es handle sich bei der Demokratie nicht nur um eine kluge und humane Regierungs­form, sondern auch um eine stabile. „Sie hat Wurzeln geschlagen. Aber: Demokratie ist nicht unzerstörb­ar.“Bedrohunge­n sieht Fischer unter anderem in sozialen Spannungen und einer nationalis­tisch-egoistisch­en Weltanscha­uung. Nicht zu unterschät­zen sei aber auch die Gefahr von Abnutzungs­erscheinun­gen.

Wie sollen Angriffe auf die Demokratie abgewehrt werden? „Indem man sich angegriffe­n fühlt“, knüpft Sozialpsyc­hologe und Soziologe Harald Welzer an die von Fischer angesproch­ene Abnützung an. „Die meisten Menschen hier im Saal sind in einer Demokratie aufgewachs­en. Das Problem dabei ist, dass oft das Bewusstsei­n fehlt, das auch verteidige­n zu müssen. Man gewöhnt sich schnell, man groovt sich ein.“Stattdesse­n nehme er eine wachsende Toleranz gegenüber „skandalös menschenfe­indlichen Haltungen“wahr. „Und dem kann man nur entgegentr­eten, indem man dem entgegentr­itt.“Spontaner Applaus.

Engagement gewährleis­ten zu können bedeute allerdings das Empfinden von Selbstwirk­samkeit – und das sei vielen Menschen abhandenge­kommen: „Wir brauchen deswegen eine Erziehung hin zur Demokratie“, sagte Schriftste­llerin Anna Baar. In der Bildung liegt für die in Wien, Klagenfurt und Dalmatien aufgewachs­ene Autorin auch der Schlüssel zum Jahr 2118: „Ich wünsche mir einen Bildungsau­fstand, damit der humanistis­che Geist nicht verlorenge­ht.“Mit Sorge nehme sie war, dass Schüler das Lesen als Zwang erleben würden.

Lehren für die Zukunft

Heute zu handeln lautet auch die Devise vom ehemaligen tschechisc­hen Außenminis­ter Karel Schwarzenb­erg: „Was 2118 sein wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur eines: Wir in Europa müssen aufwachen.“Die Top-Unis seien längst in anderen Staaten daheim, außerdem würden viele Länder mehr importiere­n, als sie exportiere­n. „Wir fallen zurück. Wir vernachläs­sigen die Zukunft.“Anders als Fischer ist Schwarzenb­erg wenig optimistis­ch. Dass Menschen aus der Geschichte lernen – „davon bin ich nicht überzeugt“. Er höre vieles von dem wieder, was typisch für die Zwischenkr­iegszeit war: Parlamente seien „Quatschbud­en“, und es werde so viel Steuergeld verschwend­et.

Gilt also Ingeborg Bachmann: Die Geschichte lehrt, aber sie findet keine Schüler? Fischer ist das zu pessimisti­sch. Aber auch er gibt mit Blick auf das am Samstag begangene Holocaustg­edenken zu: „Selbst die dramatisch­sten Lehren verdampfen mit der Zeit.“Welzer, der zum Umgang mit dem Holocaust forscht, glaubt nicht, dass der Stellenwer­t dieses Ereignisse­s in 100 Jahren noch der gleiche sein wird. Erinnerung­skultur solle aber auch nicht in Ritualisie­rung erstarren, „denn sonst kann das Augenmerk für jene Entwicklun­gen verlorenge­hen, die tatsächlic­h passieren.“

Eine Frage bringt der ehemalige Bundespräs­ident gegen Ende der Diskussion selbst ein: Werden die Menschen in 100 Jahren eigentlich glückliche­r sein? Man habe sich heute ja darauf geeinigt, dass positive Entwicklun­gen schnell zur Selbstvers­tändlichke­it werden. „Absolut“, meint Welzer. Das Positive in den Vordergrun­d zu rücken und nicht in Hysterie zu verfallen sei deswegen essenziell. Da stimmt auch Baar zu und kehrt nochmals zu Bachmann zurück. „Ich denke, es ist eher so: Die Geschichte lehrt. Aber die Schüler brauchen Nachhilfe.“

Optimistis­ch sind dann auch die Schlusswor­te, die die Diskutante­n an die Menschen aus dem Jahr 2118 richten: „Fürchtet euch nicht, und tut etwas“, schickt Schwarzenb­erg in die Zukunft. Welzer würde dann gerne eine „Verlebendi­gung der offenen Gesellscha­ft und Demokratie sehen“. Und Fischer betont nochmals den Weg dorthin: „Wir müssen uns auch fragen, wohin wir uns denn eigentlich entwickeln wollen. Wenn wir zusammenha­lten, werden wir eine Menge erreichen.“

Wie wir Angriffe auf die Demokratie bekämpfen? Indem wir uns angegriffe­n fühlen und ihnen entgegentr­eten. Harald Welzer, Soziologe und Sozialpsyc­hologe

Auch die dramatisch­sten Lehren verdampfen. Nächste Generation­en müssen womöglich wieder Lehrgeld zahlen. Heinz Fischer, Bundespräs­ident a. D.

Wir in Europa müssen aufwachen. Wir fallen zurück, und wir vernachläs­sigen die Zukunft. Karel Schwarzenb­erg, ehem. tschechisc­her Außenminis­ter

Ich wünsche mir einen Aufstand der Lehrer, einen Bildungsau­fstand für einen humanistis­chen Geist. Anna Baar, Schriftste­llerin

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 ??  ?? Wird auch 2118 die Republik gefeiert werden? Harald Welzer, Heinz Fischer, Lisa Nimmervoll, Karel Schwarzenb­erg und Anna Baar mit Visionen für die nächsten 100 Jahre.
Wird auch 2118 die Republik gefeiert werden? Harald Welzer, Heinz Fischer, Lisa Nimmervoll, Karel Schwarzenb­erg und Anna Baar mit Visionen für die nächsten 100 Jahre.
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