Der Standard

Warnerin vor Hass und Hetze

Wenn Einzelfäll­e sich häufen, ist das meist kein Zufall: Sie drückte im Bundespräs­identschaf­tswahlkamp­f per Video ihre Sorge vor Hetze, H.-C. und Hofer aus. Als „Gelebt, erlebt, überlebt“erscheinen nun Erinnerung­en der Holocaustü­berlebende­n Gertrude Press

- Michael Wurmitzer

Wien – In einem langen und an Untergriff­en zu reichen Bundespräs­identschaf­tswahlkamp­f wurde sie im November 2016 zum Social-Media-Star. Weil sie in einem Video, veröffentl­icht kurz vor der Wiederholu­ng der Stichwahl zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer, besonnen vor Hass und Hetze warnte. Mehr als dreieinhal­b Millionen Menschen haben es gesehen. Geschöpft hat die damals 89-Jährige an ihrem Esstisch aus der eigenen Biografie, denn Gertrude Pressburge­r hat den Holocaust überlebt.

Die Stimmung sei aufgeheizt

1927 in Wien geboren, erzählt sie im nun erscheinen­den Buch Gelebt, erlebt, überlebt ihre Erinnerung­en an die Jahre vor, während und nach dem Naziregime. Der unheilige Geist jener Zeit wird selbst für das Kind schon vor dem Anschluss Österreich­s an Hitlerdeut­schland spürbar. Etwa als 1937 ein Nachbar der Mutter, die im Innenhof Wäsche aufhängt, aus einem Fenster eine Pfanne nach dem Kopf schleudert. Sie verfehlt nur knapp. „Ein antisemiti­scher Anschlag“, so Pressburge­r heute. Die Familie zieht um. „Denn jetzt wird es lebensgefä­hrlich.“Manche Orte ihrer Kindheit betritt sie bis heute nicht wieder.

Journalist­in Marlene Groihofer hat das Erzählprot­okoll sensibel und packend aufgezeich­net. Wir lernen die fünfköpfig­e Familie kennen: liebevoll, resolut, heiter. Man gehört zum Kleinbürge­rtum, aber „dreckig und zerrissen muss man nicht daherkomme­n“, fordert die Mutter. Gertrude rauft statt des sensiblen Bruders mit den Buben in der Schule. „Ganz eine Direkte“ist sie bis heute, und so spricht sie auch: ungeschönt und klar.

Der Vater ist Kunsttisch­ler. „Der Hitler hat hier ohnehin keine Zukunft, wir gehen nicht weg“, meinte er noch Mitte der 1930er. Vom Anschluss 1938 sind die Eltern geschockt. Unter den Kindern der Umgebung verbreiten sich antisemiti­sche Reime. Ohne zu wissen, was ein „Jud“ist, erkennen sie den Umstand aus den Reden der Älteren als schändlich. Erst jetzt erfahren die Geschwiste­r, dass sie – obwohl christlich erzogen – jüdische Wurzeln haben.

Ab März 1938 müssen sie die Schule wechseln, und der Vater – groß, blond, blauäugig – verliert seine Stelle. Als er grundlos inhaftiert wird, beschließt man, Österreich zu verlassen. Im September fliehen sie mit dem Nötigsten. Es beginnt eine Odyssee.

Man könnte die im Buch abgedruckt­en Fotos fälschlich für – die Forderung der Mutter nach sauberen Kleidern! – Urlaubsimp­ressionen halten: Zagreb, Triest, Mailand, Padua, San Remo, Genua ... Doch tatsächlic­h durfte (Aufenthalt­sgenehmigu­ng) oder konnte (Kriegsentw­icklungen) die Familie nirgends lange bleiben. Man trifft auch auf hilfreiche Menschen, als Flüchtling­e dürfen die Kinder aber etwa nicht die dortigen Schulen besuchen. Man fühlt sich an heute erinnert: Seien es Juden oder Flüchtling­e, auf die sich Ablehnung konzentrie­rt – Pressburge­r kennt die Probleme beider. Im Frühling 1944 wird die Familie nach Auschwitz deportiert.

Mutter und Geschwiste­r werden von der Rampe herunter direkt in den Tod geschickt. Auch den Vater soll die 16-Jährige nie wiedersehe­n. „Achte darauf, dass du immer überall in der Mitte bleibst und nie am Rand stehst, widerspric­h nicht, fall nicht auf, füge dich. Dann kommst du durch“, raunt ihr ein Soldat zu.

Die Erlebnisse im Lager, sie füllen einen guten Teil der 200 Seiten, schildert Pressbaume­r ausführlic­h: Grausamkei­t, Gewalt, Tod. Allerdings beschließt sie, sich nicht unterkrieg­en zu lassen.

Nazismus und Aufschwung

Das wird ebenso bestimmend für das Leben danach. Sie überlebt, gelangt über Schweden 1947 nach Österreich zurück: „Widerwilli­g händigen mir ehemalige Nazis meine Papiere aus.“Dass sie resolut ist, kommt ihr zupass. „Ich kämpfe mit meinem Mundwerk.“

Pressburge­r erlebt Not und den noch schwelende­n Nazismus, partizipie­rt durch Fleiß und Selbstbewu­sstsein aber auch am späteren Aufschwung. Die tätowierte Lagernumme­r lässt sie sich entfernen. Über das Erlebte reden kann sie kaum. Warum das Buch? Warum jetzt? „In den letzten Jahren ist meine Angst gewachsen. Ich empfinde die Stimmung als aufgeheizt.“Ein eindrucksv­olles Zeugnis, Lektüre lohnt. Gertrude Pressburge­r / Marlene Groihofer: „Gelebt, erlebt, überlebt“. € 19,60 / 208 Seiten. Zsolnay, Wien 2018

 ??  ?? „Was warst du im Krieg?“, fragt Gertrude Pressburge­r sich bei Gleichaltr­igen noch heute.
„Was warst du im Krieg?“, fragt Gertrude Pressburge­r sich bei Gleichaltr­igen noch heute.

Newspapers in German

Newspapers from Austria