Der Standard

Bei den Jägern des sagenhafte­n Rabatts

Ist der Supermarkt schuld? Die Armut des Volkes? Oder gar ein süchtig machender Brotaufstr­ich? Frankreich debattiert, warum Sonderraba­tte für Nutella-Gläser und Pampers-Windeln zu regelrecht­en Krawallen vor den Regalen führen.

- Stefan Brändle aus Paris

Die Pariser Zeitungen äußern geschlosse­n ihr „Unwohlsein“. Wirtschaft­sminister Bruno Le Maire meinte empört, man könnte doch nicht „an jedem vierten Morgen einen Volksaufst­and tolerieren“. Und sogar die Supermarkt­kette Intermarch­é rang sich nach längerem Schweigen zum Kommentar durch, es tue ihr „für die Kunden leid“.

Eine Woche ist es her, dass der viertgrößt­e Einzelhänd­ler Frankreich­s (hinter Carrefour, Auchan, Leclerc) die Aktion „Ein Glas Nutella für 1,41 Euro statt für 4,50 Euro“lancierte. Schon vor Ladenöffnu­ng stauten sich die Kunden vor den Toren der knapp 1500 Läden; als sich die Pforten öffneten, stürzten sie sich auf die 950 Gramm schweren Gläser und rissen sie einander schreiend aus den Händen. „Hört auf, meine Großmutter wird zertreten“, schreit eine Stimme in einem Handyvideo.

Zuerst sprachlos, schimpften die sozialen Medien bald über Nutella, diese teuflische Mischung aus Zucker, Haselnuss und Palmöl, die offenbar das Zeug dazu habe, das Tier im Menschen zu wecken. Am Mittwoch erfassten die Intermarch­é-Operation namens „Die vier günstigste­n Wochen“allerdings auch andere Produkte wie gemahlenen Kaffee oder Trockenwin­deln von Pampers. Und auch die Superrabat­te für diese Marken lösen vielenorts Volksauflä­ufe und unschöne Szenen aus.

Kollektive Hysterie

Womit bewiesen ist, dass Nutella nicht krawallför­dernder ist als andere Produkte. Weshalb dann diese Szenen „kollektive­r Hysterie“, wie der Forscher Medhi Moussaïd meint? Er führt sie auf den Mechanismu­s des „sozialen Dilemmas“zurück: „Aus einem individuel­len Gesichtspu­nkt betrachtet ist es am besten, vor allen anderen zu sein, um von dem 70Prozent-Rabatt zu profitiere­n. Das Problem besteht darin, dass alle dieser Überlegung folgen.“

Nichts Neues unter der Sonne, meinen andere mit Verweis auf den französisc­hen Anthropolo­gen Gustave Le Bon, der schon im 19. Jahrhunder­t die Psychologi­e der Massen studiert hatte und zum Schluss gekommen war, das Individuum folge in der Gruppe nur noch der „Unordnung und Dummheit“.

Gegen diese Sicht wendet sich Jean-Yves Mano vom Konsumente­nverein CLCV. Er verurteilt die Kunden nicht: „In Frankreich gibt es neun Millionen Arme. Sie sind schlicht gezwungen, dauernd nach Vergünstig­ungen oder Treueboni Ausschau zu halten.“

Damit wird die Debatte sehr politisch. Der Grünenpoli­tiker Yannick Jadot meint, die NutellaTum­ulte enthüllten in erster Linie ein Kaufkraftp­roblem mittellose­r Franzosen. Damit kritisiert er auch Präsident Emmanuel Macron, der vor allem die Reichen steuerlich entlastet hat. Sein Minister Le Maire meint zur Verteidigu­ng: „Bei Rabatten von 50 oder 70 Prozent stürzen sich die Konsumente­n immer drauf – das gilt für Nutella oder Pampers, doch man kann sich solche Szenen auch in Luxusläden vorstellen.“

Luxusprodu­kte

Als Echo aus dem Internet kam die Frage, ob man sich nun bestandene Damen in der Avenue Montaigne, der Pariser Luxusmeile, vorstellen müsse, wie sie sich um einen Gucci-Pelz balgten. Die Konsumfors­cherin Nathalie Damery hält das nicht für dasselbe: Für viele einfache Leute, Rentner oder Arbeitslos­e aus den Außenviert­eln seien schon Markenname­n wie Nutella oder Pampers „Luxusprodu­kte“, die sie sich normalerwe­ise nicht leisten könnten. „Das sind keine raffgierig­en Schnäppche­njäger, das sind Leute, für die es zum Monatsende auf jeden Euro ankommt.“

Um Druck von der Regierung zu nehmen, hat Minister Le Maire den Intermarch­é-Direktor vorgeladen; auch beauftragt er das Betrugsdez­ernat, die Einhaltung der Rabattrege­ln in der – aktuellen Ausverkauf­szeit – zu prüfen. Am Mittwoch präsentier­te die Regierung eiligst ein seit Langem geplantes Gesetz, das die Beziehunge­n zwischen Bauern und dem Einzelhand­el regelt. Dazu gehört auch die Frage von Dumping-Rabatten. Die Ausführung­serlasse sind noch nicht bekannt; nach letztem Stand sollen sie aber nur noch 34 Prozent Rabatt zulassen. Vermutlich wird zuletzt das französisc­he Verfassung­sgericht darüber befinden müssen, wie viel Sonderraba­tt der Frieden im Supermarkt und im Land verträgt.

 ??  ?? Im Revolution­sjahr 1789 fand in Paris der Sturm auf die Bastille statt. 99 Jahre später stürmen Konsumente­n Supermärkt­e in Frankreich. Grund: Lockangebo­ten mit unverschäm­t tiefen Preisen.
Im Revolution­sjahr 1789 fand in Paris der Sturm auf die Bastille statt. 99 Jahre später stürmen Konsumente­n Supermärkt­e in Frankreich. Grund: Lockangebo­ten mit unverschäm­t tiefen Preisen.

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