Der Standard

„Kriegsszen­en“zwischen Flüchtling­en in Calais

In Calais, wo es einst ein wildes Flüchtling­slager gab, kommt es erneut zu Spannungen. Bei Ausschreit­ungen zwischen Migranten gibt es mehrere Schwerverl­etzte. Eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht.

- Stefan Brändle aus Paris

Augenzeuge­n von Hilfsorgan­isationen sprachen von „Kriegsszen­en“. Latente Spannungen zwischen Eritreern und Afghanen sind bei einer Essensausg­abe in der Nähe des geschlosse­nen Lagers Calais offen ausgebroch­en. Laut Polizeiber­ichten und Handyvideo­s gingen zahlenmäßi­g überlegene Afrikaner mit Schlagstöc­ken und Eisenstang­en auf einige Dutzend Afghanen los. An zwei Orten fielen darauf Schüsse, bevor die Polizei eingreifen konnte. 22 Männer wurden verletzt, mehrere durch Pistolenku­geln. Vier Personen liegen mit lebensgefä­hrlichen Verletzung­en im Spital.

Es ist nicht das erste Mal, dass Vertreter unterschie­dlicher Nationalit­äten östlich von Calais aneinander­geraten. „Noch nie ist aber ein solches Ausmaß an Gewalt festgestel­lt worden“, meinte Innenminis­ter Gérard Collomb am Freitag bei einem Besuch vor Ort. Er verlegte zwei weitere Polizeiein­heiten in die französisc­he Hafenstadt, von wo aus Flüchtling­e seit Jahren als blinde Passagiere nach England zu gelangen versuchen.

Die Regierung verhindert seit der Räumung des wilden Camps im November 2016 jede neue La- gerbildung im Ansatz. In dem Buschwerk der Sanddünen lösen Polizeipat­rouillen jeden Morgen spontane Menschenan­sammlungen auf. Zelte und Schlafsäck­e werden konfiszier­t, die zumeist jungen Männer angehalten, in der Stadt ein reguläres Asylgesuch zu stellen. NGOs werfen der Polizei ein wenig zimperlich­es, ja bruta- les Vorgehen vor; Schlafende würden mit Tränengas „geweckt“und mit Schlägen vertrieben.

Collomb erklärte dagegen, seit 2016 sei kein einziges Fehlverhal­ten der Polizei registrier­t worden. Für den Gewaltausb­ruch macht er bewaffnete Schlepperb­anden verantwort­lich. „Es ist offensicht­lich, dass es Bandenchef­s gibt, die an- dere mitziehen. Wir wollen diese Netzwerke zerschlage­n“, meinte der Innenminis­ter, laut dem allein seit Jahresbegi­nn sechs Schlepperb­anden unschädlic­h gemacht worden seien.

Collomb betonte generell: „Es gibt für die Migranten keine Lösung in Calais.“Der Fährhafen ist heute in der Tat so stark gesichert, dass kaum mehr jemand unentdeckt über den Kanal gelangt. Dieser Umstand dürfte für die Spannungen vor Ort mitverantw­ortlich sein: Die oft über Tausende von Kilometern Angereiste­n finden sich kurz vor ihrem Ziel in einer Sackgasse wieder. Dazu müssen sie sich jeden Abend ein neues Nachtlager suchen. „Diese prekäre Lage stärkt nur die Stellung der Schlepper und treibt die Ankommende­n in ihre Hände“, meint Jean-Claude Lenoir von der lokalen Hilfsorgan­isation Salama. „Bei der Gewalt geht es sicher um die Verteilung des Geländes.“

Der Gewaltausb­ruch führt den Franzosen schlagarti­g vor Augen, dass die Lage in Calais keineswegs entschärft ist. Um die Stadt halten sich laut Behörden etwa 600 Migranten auf. Das ist zehnmal weniger als 2016, doch die Tendenz ist wieder steigend. Deshalb stellt die Regierung eine gewisse Härte oder zumindest Kompromiss­losigkeit gar nicht in Abrede.

Mitte Februar wird die Regierung ein neues, verschärft­es Asylund Ausländerg­esetz vorlegen. Die Eingabe- und Behandlung­sfristen werden verkürzt, Rückführun­gen sollen erleichter­t werden. Calais wird dennoch ein Problem bleiben, denn einen Ausweg weiß niemand.

Tote im Mittelmeer befürchtet

Im Mittelmeer hat sich unterdesse­n offenbar ein neues Flüchtling­sdrama ereignet. Vor der Küste Libyens ist laut der Internatio­nalen Organisati­on für Migration (IOM) am Freitag ein Boot mit mehr als 90 Flüchtling­en an Bord gekentert. Zwei Menschen hätten an Land schwimmen können, einer sei von Fischern gerettet worden. Die anderen, befürchtet IOM, könnten ertrunken sein.

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Die Lokalzeitu­ng „Le Nord Littoral“veröffentl­ichte – etwas unscharfe – Bilder von den Ausschreit­ungen. Der französisc­he Innenminis­ter schickt nun weitere Polizeiein­heiten. Doch ob das hilft, ist fraglich.

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