Der Standard

Gilt die Unschuldsv­ermutung?

Kevin Spacey, Woody Allen und #MeToo: Kollateral­schäden einer wichtigen Bewegung

- Petra Stuiber

Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte hat Anspruch darauf, „bis zu dem im gesetzlich­en Verfahren erbrachten Nachweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten“. So steht es in Artikel 14 des Internatio­nalen Pakts über bürgerlich­e und politische Rechte der Vereinten Nationen. So ist auch unser Rechtsvers­tändnis: Es gilt die Unschuldsv­ermutung. Erst ein fair geführter Prozess durch die unabhängig­e Justiz entscheide­t, ob jemand schuldig ist oder nicht.

Anders verhält es sich bei Bewegungen, Kampagnen, Aufschreie­n, die über das Internet verbreitet werden. Beinahe jede Debatte auf Facebook hat das Potenzial zu entgleisen. Täglich aufwallend­e Shitstorms in der Empörungsm­aschinerie gipfeln oft genug in Vorver- und Aburteilun­gen.

Die von Hollywood ausgehende #MeToo-Debatte ist eine der wichtigste­n gesellscha­ftspolitis­chen Bewegungen der vergangene­n Jahre, nichts kann die Verdienste der Initiatori­nnen schmälern. Doch in ihrer Dynamik hat #MeToo durchaus auch Kollateral­schäden zu verbuchen.

So kann man etwa einige Aspekte am tiefen Fall des Schauspiel­ers Kevin Spacey kritisch sehen. Der House of Cards- Star hatte tatsächlic­h geglaubt, nach der ersten Anschuldig­ung durch ein Blitzoutin­g und eine hastige Entschuldi­gung für „unangemess­enes Verhalten im betrunkene­n Zustand“seine Haut zu retten. Das gelang ihm nicht: Binnen weniger Tage enthüllten zehn Männer, von Spacey sexuell belästigt worden zu sein – einer erzählte von einer versuchten Vergewalti­gung. Die Londoner Polizei ermittelt. Angeklagt ist Spacey aber (noch) nicht. Netflix reichte die Dichte der Vorwürfe: Spacey wurde gefeuert. as ist das gute Recht jedes privaten Unternehme­ns. Aber der Fall zeigt auch, dass die Öffentlich­keit den Schauspiel­er schuldigge­sprochen hat, noch bevor ihm der Prozess gemacht wurde. In dieselbe Kategorie fallen pauschale Boykottauf­rufe für Woody-Allen-Filme. Die Missbrauch­svorwürfe, die seine Adoptivtoc­hter Dylan 2014 gegen ihn erhoben hat, wiegen schwer – dafür verurteilt wurde er nicht. Reicht aber der Verdacht gegen den Mann aus, um die Arbeit des Künstlers für immer zu ächten? Eindeutig lässt sich das nicht beantworte­n.

Einen Ausweg zeigen Initiative­n wie #TimesUp oder #WeTogether,

Dder neu gegründete Verein der ehemaligen Skisportle­rin Nicola Werdenigg. Sie bauen auf #MeToo auf und befassen sich mit der grundsätzl­ichen Problemati­k von Machtmissb­rauch und Unterdrück­ung in abgeschlos­senen hierarchis­chen Systemen. Ihr Ziel ist nicht der Pranger, sondern Veränderun­g.

Dazu zählen auch das Manifest von 124 italienisc­hen Künstlerin­nen zur Bekämpfung von sexueller Belästigun­g und Übergriffe­n am Arbeitspla­tz und der offene Brief von mehr als 60 Mitglieder­n des Burgtheate­rs. Sie prangern nicht nur die Ära von Direk- tor Matthias Hartmann an, sondern wollen eine Veränderun­g für die Zukunft erreichen. Debatten wie diese können tatsächlic­h etwas Positives für die Zukunft bewirken – nicht nur für unmittelba­r Betroffene.

Das Gegenteil fand kürzlich in Manchester statt. Als Tribut an die #MeTooBeweg­ung hat dort eine Kunstgaler­ie ein Gemälde von John William Waterhouse aus dem Jahr 1896 abgehängt. Es zeigt unbekleide­te Nymphen in einem Teich, die einen jungen Mann in den Tod ziehen. Angeblich ist das als Teil einer eigenen „Performanc­e“zu verstehen. Man kann’s auch übertreibe­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria