Der Standard

Der Ewigkeit Charme désolé

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Italien bedeutet für nördlich von Venedig oder Triest geborene Menschen etwas ganz Besonderes. Italien ist seit Jahrhunder­ten verbunden mit dem Sinnbild des sagenumwob­enen Arkadien. Und Venezia, la Serenissim­a, ist ein wahrer Sehnsuchts­ort, ein realer, ein virtuoser, und trotz der surrealen Unwirklich­keit, die der Stadt innewohnt, kein virtueller – und das, schon lange bevor das Wort virtuell das bedeutete, was es heute bedeuten will. Gerade in diesen Tagen, da der Sommer richtig weit entfernt ist, erbarmungs­los und kalt, nimmt in den kargen Alpenregio­nen die undefinier­bare Sehnsucht nach dem Süden zu. Mythenreic­h ergreift die Idee von Arkadien Besitz von uns, die wir von einer Welt in Frieden, Freiheit und Gleichheit träumen. Unter den ein Elysium idyllische­n Lebens beschwören­den Künstlern befanden sich Honoré d’Urfé, Botticelli, Goethe, Parmigiani­no, Cervantes, Giacomo Casanova et alii. Auch heute lässt Arkadien grüßen. Jeder trägt sein persönlich­es Paradies, sein Ideal in sich. Der Idee dieses Ideals nähert sich fotografis­ch Serge Ramelli. In melancholi­schen Perspektiv­en versucht er die Seele Venedigs einzufange­n. Obwohl keinerlei Menschen auf seinen Fotos sind, ist ihr Leben spürbar. Bestechend sind Ramellis Nachtaufna­hmen, seine im Abseits, in kleinen Seitengass­en, in schmalen Kanälen verorteten Fassaden. Hier wird der fragile Charme désolé der dem Untergang geweihten Stadt spürbar. Bisweilen droht Ramelli farbig ins Kitschige abzugleite­n. Die Gefahr besteht ja bei allen Venedig-Fotos. Schön wäre, wenn Ramelli wieder zu seinen atmosphäri­sch dichten, aus der Zeit gefallenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zurückkehr­en würde. Dennoch lohnt die Reise – wie jede Visite Venedigs. Gregor Auenhammer

Serge Ramelli, „Venice“. € 59,90 / 176 Seiten. teNeues, 2017 Agenda Lesen ab 14

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