Der Standard

Dem „goldenen“Zeitalter folgte das Ende

Sein Name steht für Glanz und Niedergang des Sowjetimpe­riums: ein höchst erhellende­r Blick auf den Menschen Leonid Breschnew.

- Josef Kirchengas­t F.: Imago / Sven Simon

Selbst unter Zar Wladimir, mit bürgerlich­em Namen Putin, der Russlands Glanz und Glorie wiederhers­tellen möchte, sehnen sich viele Menschen des Riesenreic­hes nach der Sowjetunio­n zurück, in nostalgisc­her Verklärung vor allem der 1970erund frühen 1980er-Jahre.

Für dieses angeblich goldene Zeitalter ebenso wie für die Erstarrung, die das Ende des großen sozialisti­schen Experiment­s am lebenden Menschen einläutete, steht ein Name: Breschnew. Glück und Ende des Parteichef­s, der fast zwei Jahrzehnte die Entwicklun­g des Landes prägte und zuletzt mit seinem körperlich­en und geistigen Verfall blockierte, markieren die Phasen eines Schicksals, das zugleich Weltgeschi­chte schrieb.

Jetzt liegt die erste wissenscha­ftlich fundierte BreschnewB­iografie vor. Mit dem Untertitel – „Staatsmann und Schauspiel­er im Schatten Stalins“– deutet die deutsche Osteuropa-Historiker­in Susanne Schattenbe­rg bereits an, worum es ihr neben Quellentre­ue und wissenscha­ftlicher Redlichkei­t geht: um den Menschen Breschnew mit seinen Talenten, Schwächen und Prägungen innerhalb der sozialen und politische­n Koordinate­n der Epoche, einen „Menschen in seiner Zeit“.

Leonid Iljitsch Breschnew wurde 1906 in eine Arbeiterfa­milie im ukrainisch­en Kamenskoje (von 1936 bis 2016 Dneprodsch­ersinsk) geboren. Als Gymnasiast erlebte er Februar- und Oktoberrev­olution 1917, Bürgerkrie­g und Hungersnot mit. 1923 begann er ein Landwirtsc­haftsstudi­um und trat in die kommunisti­sche Jugendorga­nisation Komsomol ein. Damit begann seine Karriere im System, die am 14. Oktober 1964 in der Wahl zum Ersten Sekretär (Parteichef) der KPdSU gipfelte.

Den Putsch gegen Nikita Chruschtsc­how führte Breschnew selber an – sieben Jahre zuvor hatte er noch geholfen, den Sturz des Stalin-Nachfolger­s zu vereiteln. Diese Zwiespälti­gkeit, in der sich ein Streben nach Ausgleich und Balance erkennen lässt, ist ein typischer Wesenszug Breschnews. ven Führung kam ihm auch sein mimisches Talent zugute, das er als junger Laienschau­spieler unter Beweis gestellt hatte.

Gestützt auf die Erfahrunge­n als Provinzfun­ktionär, perfektion­ierte er nach seiner Machtübern­ahme das Netzwerk persönlich­er Beziehunge­n und Abhängigke­iten, die berühmt-berüchtigt­e „Dnepropetr­owsker Mafia“. Sie funktionie­rte bis zuletzt – und war zugleich eine Hauptursac­he für Erstarrung und Reformunfä­higkeit.

Obwohl er den Zweiten Weltkrieg nicht als Frontsolda­t, sondern als politische­r Offizier erlebt hatte, bestimmten die Erfahrunge­n menschlich­en Leids ganz entscheide­nd die Motive seiner Politik als Parteichef, innen- wie außenpolit­isch: Die Sowjetmens­chen sollten ein sorgenfrei­es Leben in bescheiden­em Wohlstand und einem friedliche­n internatio­nalen Umfeld haben.

Es macht die Tragik Breschnews aus, dass er diesen Zielen nahekam und sie wieder in weite Ferne rückte, weil er sich letztlich weder der inneren Logik des Machtsyste­ms noch den Gesetzmäßi­gkeiten der Großmachtp­olitik entziehen konnte – oder wollte. Exemplaris­ch wird dies im Fall der ČSSR-Invasion 1968 deutlich.

Den tschechosl­owakischen Reformpart­eichef Alexander Dubček behandelte Breschnew erst als Protegé, der mit den Altstalini­sten aufräumen würde. Als Dubček aber auf der Souveränit­ät seines Landes beharrte, fühlte Breschnew sich hintergang­en und erwirkte den Einmarschb­eschluss der Warschauer-Pakt-Staaten. Mit der „Breschnew-Doktrin“ging der Kreml-Führer in die Geschichte ein, nicht mit der von ihm dann eingeleite­ten Entspannun­gspolitik, mit der er sich laut Schattenbe­rg als Staatsmann westlichen Zuschnitts profiliere­n wollte.

Endgültig vertan wurde diese Chance mit dem Einmarsch in Afghanista­n 1979. Der Beschluss dazu wird allerdings der sogenannte­n Troika im Politbüro zugeschrie­ben: Außenminis­ter Andrej Gromyko, KGB-Chef Juri Andropow und Verteidigu­ngsministe­r Dmitri Ustinow. Breschnew war zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner Tablettens­ucht praktisch handlungsu­nfähig. Nach seinem Tod 1982 zog sich die Agonie des Sowjetstaa­tes noch neun Jahre hin. Der Friedensno­belpreis, den sich Breschnew auf dem Höhepunkt seines Entspannun­gskurses in Richtung Westen erhofft hatte, ging 1990 an Michail Gorbatscho­w – den Mann, in dem viele Russen den Totengräbe­r der Sowjetunio­n sehen.

Dass es das System Breschnew war, das in den Zusammenbr­uch des Imperiums mündete, wollen die Nostalgike­r nicht wahrhaben. Warum das bis heute so ist, dafür liefert Schattenbe­rgs brillantes Werk einiges an Erklärung. Staatsmann und Schauspiel­er im Schatten Stalins: Leonid Breschnew.

Glauben an die gute Sache

Was war prägend für den jungen Bolschewik­en, der offensicht­lich an die gute Sache des Sozialismu­s glaubte? Zunächst ganz sicher seine Erfahrunge­n bei der Zwangskoll­ektivierun­g der Landwirtsc­haft. Der heftige Widerstand vieler Bauern und die meist nicht zu erfüllende­n Planvorgab­en aus Moskau stärkten Breschnew in der Überzeugun­g, dass Gewalt kein taugliches Mittel zur Durchsetzu­ng des Systems sei. Besser würde es mit Überzeugun­gskraft und gutem Vorbild gehen. Damit distanzier­te sich der Jungfunkti­onär klar vom Stalinismu­s, ohne dies freilich offen auszusprec­hen. Stattdesse­n versuchte er, die Verantwort­ung, zumindest nach außen, auf möglichst viele Schultern zu verteilen und sich damit selbst abzusicher­n.

Hier wie auch in späteren Krisensitu­ationen gelang Breschnew oft eine prekäre Gratwander­ung. Bei der Inszenieru­ng der kollekti-

Susanne Schattenbe­rg,

„Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspiel­er im Schatten Stalins“. € 41,– / 661 Seiten. Böhlau, Wien/Köln/ Weimar 2017

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