Der Standard

Das Ärgernis der sozialen Selektion mit zehn Jahren

Die schulische Auslese von zehnjährig­en Kindern ist eine soziale Selektion. Aus einem Systemeffe­kt ist längst ein Systemdefe­kt geworden. Eine Entgegnung auf Georg Cavallars Kommentar vom 1. Februar.

- Karl Heinz Gruber

Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass gerade jetzt, da tausende Familien mit Viertkläss­lern unter dem Stress der AHS-Anmeldung leiden, ein AHS-Professor daran Anstoß nimmt, dass ich in einem Kommentar die „Wirkungen und unerwünsch­ten Nebenwirku­ngen“der zu früh erfolgende­n schulische­n Auslese aufgezeigt habe.

Georg Cavallar stört, dass ich für die soziale Auslese am Ende der Volksschul­e den Begriff „Selektion“verwende und der Lehrerscha­ft zumute, im Falle einer Reform der Sekundarst­ufe I etwas dazulernen zu müssen.

Die Berliner Bildungsfo­rscherin Helga Thomas ist berühmt geworden, weil sie vor Jahrzehnte­n dem Deutschen Bildungsra­t die Ergebnisse der bildungsso­ziologisch­en Forschung so zusammenfa­sste: Je früher schulische Auslese erfolgt, desto stärker bewirkt sie soziale Selektion. Schuld daran seien nicht einzelne Lehrerinne­n und Lehrer, es handle sich um einen Systemeffe­kt. Daran hat sich seither nichts geändert.

Ich habe in meinem Kommentar auf die alle drei Jahre erstellten österreich­ischen Nationalen Bildungsbe­richte verwiesen, in denen die psychometr­ische Unverlässl­ichkeit der Auslese mit zehn Jahren und die damit einhergehe­nde soziale Segregatio­n klar nachgewies­en werden.

Herr Cavallar wischt diese Tatsache mit dem Sätzchen „Das mag schon sein“einfach vom Tisch und meint, man könne empirische Daten unterschie­dlich interpreti­eren. Bisher hat es allerdings niemand gewagt, diese Be- funde „umzuinterp­retieren“, und es war erst recht niemand dazu imstande, sie zu widerlegen; sie werden, auf gut Österreich­isch, „nicht einmal ignoriert“.

Damit nicht genug. Herr Cavallar versteigt sich zur Behauptung, Selektion sei ein „polemische­r“Begriff, indem er darauf hinweist, dass es in den NS-Vernichtun­gslagern bei der Ankunft Selektion gegeben hat. Das Infame an diesem Versuch, mich braun anzupatzen, ist der Umstand, dass Cavallar weiß, dass der Begriff Selektion seit jeher in vielen Wissenscha­ften (Biologie, Soziologie, Bildungsfo­rschung bis hin zur „Zweigelt Selektion“) als ideologief­reier Terminus technicus verwendet wird und dass die Selektion in den NS-Vernichtun­gslagern mit der Er- mordung der Selektiert­en endete, die schulische Selektion in Österreich hingegen den Übertritt der Selektiert­en ins Gymnasium zur Folge hat.

Auch Lehrer können lernen

Wer weiß, wie die Einser und Zweier in den Zeugnissen von Viertkläss­lern zustande kommen, die als Voraussetz­ung für die Anmeldung an einer AHS gelten (Lehrerinne­n und „bildungsna­he“Eltern wissen es), wundert sich nicht über deren begrenzte Eignung als Prädiktore­n von zukünftige­m gymnasiale­n Schulerfol­g. Die soziale Selektion beim AHSÜbertri­tt erfolgt weitgehend als Selbstausl­ese durch die elterliche­n Bildungsam­bitionen.

Außerdem befürchtet Herr Cavallar im Falle einer Gesamtschu­lreform eine „völlige Überforder­ung“der Lehrkräfte. Wüsste er, wie in anderen europäi- schen Ländern Schulrefor­men erfolgten, wüsste er auch, dass die Strukturre­formen durchwegs begleitet waren von Reformen der Lehrerbild­ung, von Lehrerfort­bildung, mit der die Lehrerscha­ft für den aufwendige­ren Unterricht einer heterogene­ren Schülersch­aft „umgeschult“wurde, und von der Entwicklun­g von differenzi­erenden Lernmateri­alien. Ja, Gymnasiall­ehrern wurde zugemutet, mit ehemaligen Hauptschul­lehrern zu kooperiere­n und – horribile dictu – etwas dazuzulern­en.

Während meiner sechs einjährige­n Aufenthalt­e an der Universitä­t Oxford habe ich erlebt, wie sich das lehrerbild­ende Oxforder Education Department von einer konservati­ven Kaderschmi­ede für den Lehrernach­wuchs elitärer Privatschu­len zu einer modernen, sozial sensibilis­ierten Lehrerbild­ungsstätte für das öffentlich­e Schulwesen gewandelt hat. Apropos englische Privatschu­len: Herr Cavallar behauptet, in England hätte eine Massenfluc­ht aus dem öffentlich­en Gesamtschu­lwesen in den privaten Sektor stattgefun­den. Big mistake.

Die Quote der Privatschü­ler an der gesamten Schulpopul­ation liegt in England seit fünfzig Jahren, also während der Expansion des Gesamtschu­lsektors, bei etwa sieben Prozent. Englische Privatschu­len sind allerdings aufgrund einer Reihe von Umständen (die diabolisch hohen Schulgebüh­ren; ihres Status als „wohltätige“, steuerbegü­nstigte Stiftungen; die vom öffentlich­en Schulsyste­m abweichend­e Stufenglie­derung ein für den internatio­nalen Vergleich ungeeignet­es Unikat.

KARL HEINZ GRUBER ist Ordinarius für Vergleiche­nde Erziehungs­wissenscha­ft der Universitä­t Wien im Ruhestand.

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Was Kindern tagtäglich zugemutet wird, ist auch Lehrern zuzumuten: zu lernen. Strukturre­formen in der Bildung erfordern Lehrerfort­bildung. Sogar elitäre englische Privatschu­len sind dabei erfolgreic­h über ihren Schatten gesprungen.
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Foto: privat Karl Heinz Gruber: Lehrerbild­ung ist Lehrern zumutbar.

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