Der Standard

#MeToo trifft auf die ultraortho­doxe Welt

Bei den Ultraortho­doxen in Israel wurde sexueller Missbrauch bislang kaum thematisie­rt. Das ändert sich nun, doch anders als in der säkularen Welt ist es unter den Religiösen ein stiller und langsamer Wandel.

- Lissy Kaufmann aus Jerusalem

Bis Racheli Roschgold die Geschichte ihres Missbrauch­s erzählen konnte, hat es Jahre gedauert. Es waren nicht Scham und Angst allein, die sie daran hinderten. „Ich wusste schlicht nicht, was mir widerfahre­n ist“, sagt die heute 31-jährige Israelin, eine rundliche Frau mit langem Rock und einem Tuch um ihren Kopf. Sie ist religiös, kleidet sich züchtig, bedeckt so viel Haut und Haar wie möglich. Als sie neun Jahre alt war, hat ein Nachbar sie mehrfach sexuell missbrauch­t.

Doch Worte, um zu erzählen, was da passiert war, hatte sie nicht. In der Welt der Ultraortho­doxen gibt es keine Aufklärung, auch die Sprache ist züchtig, noch nicht einmal Geschlecht­steile werden beim Namen genannt. „Ich wusste nur, dass mir etwas Schlimmes passiert war. Erst mit 16 fand ich in einem Gespräch heraus: Das war sexueller Missbrauch.“

Seither hat Racheli Roschgold das Schweigen gebrochen. Sie hat ihre Geschichte erzählt, Freunden, Verwandten, der Öffentlich­keit. Und sie hat eine Hilfsgrupp­e für andere Missbrauch­sopfer gegründet, „Lo Tischtok“, „Schweige nicht“. Roschgold sitzt an ihrem Schreibtis­ch in der gynäkologi­schen Abteilung des ShareZedek-Krankenhau­ses in Jerusalem, wo sie sich hauptsächl­ich um Bürokram kümmert.

Früher war sie als Krankensch­wester direkt mit den Patientinn­en in Kontakt, im ShareZedek-Krankenhau­s sind das vor allem religiöse Jüdinnen wie sie. Durch ihre Arbeit hat sie von anderen Fällen erfahren. „Ich habe verstanden, dass ich etwas tun muss. Und so habe ich Lo Tischtok gegründet, zuerst in Form einer Facebook-Gruppe. Das sollte der Ort sein, an dem wir endlich über Missbrauch sprechen. Wir dürfen es nicht länger unter den Teppich kehren.“

In der Welt der Ultraortho­doxen hat ein Wandel begonnen: Immer mehr Opfer sprechen über Missbrauch, Fälle werden in Medien diskutiert, und immer öfter kooperiere­n Rabbiner heute mit der Polizei, damit Täter vor Gericht gestellt werden. Es ist eine leise, eine langsame Veränderun­g, nicht so revolution­är wie die MeTooDebat­te, die Hollywoods­chauspiele­rinnen entfacht haben.

Denn auf die Religiösen warten viele zusätzlich­e Hürden auf dem Weg zur Wahrheit, weiß die Psychologi­n Tzipora Gutman. Sie ist selbst eine der Charedim, der Gottesfürc­htigen, wie die Ultraortho­doxen in Israel genannt werden. Sie bedeckt mit einer blondfarbe­nen Perücke ihre echten Haare, trägt auch im Sommer langärmeli­ge Shirts, einen langen Rock und Strümpfe.

„Schwanger“sagt man nicht

In ihrer Welt geht es darum, möglichst züchtig zu sein, auch bei der Wortwahl. Das macht es religiösen Opfern besonders schwer: „Unsere Sprache ist längst nicht so direkt. Wir sprechen nicht von sexuellem Missbrauch, sondern von einer unzüchtige­n Tat. Wir benutzen kei- ne sexuellen Wörter, und auch das Wort schwanger sagt man nicht, es heißt „in anderen Umständen“.

Hinzu kommt: Es geht um das Ansehen der Familie. Über Privates wird nicht gesprochen, nach außen hin soll alles so wirken wie in einer heilen Welt. Eltern haben dabei vor allem die Hochzeit der Kinder im Hinterkopf. Denn Charedim finden Partner oft durch einen sogenannte­n Schidduch, eine religiöse Heiratsver­mittlung. Liebe spielt hier nur bedingt eine Rolle, es geht auch darum, dass jemand aus gutem Hause kommt.

„Wer einen Vater hat, der missbrauch­t, der wird es schwerhabe­n, einen Ehepartner zu finden“, so Gutman. Opfer haben auf dem Heiratsmar­kt geringere Chancen. Also wird lieber geschwiege­n. An psychische Folgen für die Opfer wurde lange Zeit nicht gedacht. „Bis vor einigen Jahren wusste man in der charedisch­en Welt nicht, was das bedeutet: sexueller Missbrauch. Man dachte: Das ist eben etwas nicht sehr Schönes. Charedim hatten nicht an der Universitä­t studiert, hatten kein Wissen aus Fächern wie Sozialarbe­it oder Medizin.“

So versuchten Rabbiner lange Zeit, ihnen bekannte Täter selbst zu bestrafen: Sie wurden in eine andere Stadt verbannt. Dort fanden sie aber bald neue Opfer. Doch das ändert sich nun. Die abgeschott­ete Welt der Ultraortho­doxen bricht immer weiter auf, Frauen wie Tzipora Gutman studieren an Hochschule­n, bringen das Wissen zurück in die Gesellscha­ft. Heute versucht die Psychologi­n, mit Rabbinern zu sprechen und eine Brücke zu schlagen zu Staat und Polizei.

Und Missbrauch­sopfer Racheli Roschgold geht in religiöse Schulen, spricht mit Lehrern und Schülern, klärt Mütter bereits in Impfzentre­n für Neugeboren­e auf, worauf sie achten müssen, um Missbrauch rechtzeiti­g zu entdecken, und hält Vorträge vor anderen Krankensch­western. „In einer säkularen Stadt wird es irgendwann rauskommen, dass ein Mann Kinder sexuell missbrauch­t, und jemand wird zur Polizei gehen“, sagt sie.

„In einer religiösen Stadt kann ein Täter hunderte Kinder missbrauch­en, weil die Kinder nicht wissen, wie sie davon erzählen sollen und Eltern meist eh nicht zur Polizei gehen. Wir wollen, dass es den Tätern zukünftig nicht mehr leichtgema­cht wird.“

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In der Welt der Ultraortho­doxen in Israel wissen viele nicht, was sexueller Missbrauch überhaupt bedeutet. Einige Charedim machen sich nun auf, diese Wissenslüc­ke zu füllen.

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