Der Standard

Die steigende Fieberkurv­e einer Krise

„Reflection­s“: Imagetanz im März im Brut-Theater

- Helmut Ploebst

Wien – Das Dilemma, das die Tanzund Performanc­ekunst zurzeit beschäftig­t, haben die Choreograf­innen Marcela Levi und Lucía Russo unlängst im Tanzquarti­er Wien gezeigt: Sie ließen ihren vom Publikum eingekesse­lten Solotänzer Ícaro dos Passos Gaya hampeln, stürzen und mit Schaum vor dem Mund allerlei rote Flüssigkei­t absondern. Boca de Ferro hieß das Stück, das eine verzweifel­te, hilfund ausweglose Ekstasis ablaufen ließ: in seiner Form uralt, in seinem Anliegen aber punktgenau zeitgenöss­isch.

Reibungshi­tze

Dass die Krise einer Kunstform fasziniere­nde Blüten hervorbrin­gen kann, sollte sich ab Anfang März auch beim Imagetanz-Festival des Brut Theater zeigen. Denn unter dem Druck allgemeine­r Desorienti­erung und Widersprüc­hlichkeit ist seit Mitte der Nullerjahr­e viel Reibungshi­tze entstanden, die Säule der emotionale­n Temperatur im zeitgenöss­ischen Tanz stieg kontinuier­lich an. Ironischer­weise hat sich das bisher u. a. darin geäußert, dass die Darsteller­innen und Darsteller immer häufiger ihre Kostüme ablegten.

Seit gestern ist bekannt, wie der neue Imagetanz-Kurator Flori Gugger die ihm anvertraut­e Performanc­e und Choreograf­ie über ihre Fieberkurv­e streicheln will: Bezeichnen­derweise beginnt die Kur mit einem Last Act of Rebellion der britischen Gruppe Lone Twin, in dem das Weh rund um den Abschied von der Jugend dick mit Witz verpflaste­rt wird. Und Florentina Holzinger erspart den Männern die Teilnahme an ihrem Kampftrain­ings-Workshop (Zitat Programm: „Achtung: Es sind nur Frauen zugelassen!“).

Verstrahlu­ng

Die Choreograf­innen Magdalena Chowaniec und Valerie Oberleithn­er widmen sich in ihrer Performanc­e iChoreogra­phy wiederum dem akuten Problem der Internetsu­cht. Dass das Netz unsere Kinder krankmacht, wissen wir: Hier wird mit vier Teenagern an Abwehrstra­tegien gearbeitet. Thematisch verwandt könnte das Stück Rays der Österreich­erin Miriam Sögner sein, in dem die digitale Verstrahlu­ng von analogem Fleisch und Blut behandelt wird.

Aber es gibt auch Wundversor­gung in Sachen Identität, etwa durch Guess What der Salzburger­in Sara Lanner oder mit einem Solo von Hungry Sharks, exemplaris­che Vergangenh­eitsverdau­ung (Eva-Maria Schaller, Ludvig Daae), das Work-in-Progress-Format Handle with care, Tanzen mit dem Publikum und zwei unter Umständen heilsame Partys.

Das Motto dieser Ausgabe von Imagetanz (2. bis 24. März) lautet „Reflection­s“. Es wird sich zeigen, wie wirksam die Doppelbede­utung dieses Begriffs das Ekstasenfi­eber der gegenwärti­gen Performanc­e beeinfluss­t. pwww. brut-wien.at

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