Der Standard

Orgie der Kuscheltie­re

Regisseur Calixto Bieito lässt in Berlin Franz Schrekers Oper „Die Gezeichnet­en“optisch aufleuchte­n. Zum Ereignis wird das Dirigat von Stefan Soltesz, dem auch das Sängerense­mble entfesselt folgt.

- Joachim Lange aus Berlin

Wien – So ist das an der Komischen Oper Berlin: Wenn Chef Barrie Kosky nicht Regie führt, vielmehr in London Carmen vorbereite­t, um danach seiner Heimat Australien Die Nase (Schostakow­itschs Oper) zu richten, überlässt er das Haus einem Schwergewi­cht wie Calixto Bieito. Und der bringt ein Blockbuste­rschmanker­l wie Franz Schrekers Die Gezeichnet­en auf die Bühne. Den Skandalbon­us, den Bieito hatte, als er die Überbleibs­el des realistisc­hen Musiktheat­ers dem Bilderscho­ck aussetzte, hat er auch nicht mehr nötig. Man sieht: Es geht auch ohne Blut und diverse Körperflüs­sigkeiten, wenn man Personenre­gie beherrscht wie der Katalane.

Und doch ist man diesmal etwas überrascht – die erste Hälfte des Abends geht eher als „dreivierte­lszenisch“durch. Die Sänger an der Rampe in dem schmalen, abstrakten Raum (Rebecca Ringst) wissen natürlich, was sie singen; und die Videos machen es klar. Mit dem Riesenrad kriegt man den Prater und die Assoziatio­n eines fernen Wien spielend auf die Bühne. Und dies sind Erinnerung­en an den historisch­en Nährboden, aus dem das (Ende des Ersten Weltkriege­s uraufgefüh­rte) Werk stammt: Mit den Gezeichnet­en wurde Schreker, der Konkurrent von Richard Strauss, ja höchst populär. Bis zu seiner Verbannung aus dem deutschen Musikleben durch die Nazis.

Bieitos Ästhetik bleibt jedenfalls bis zur Pause im Griff dieser Tendenz. Das Ganze wird so mehr zur Diagnose Einzelner, als zu der einer dekadenten Gesellscha­ft. Es gibt Videoproje­ktionen der Gesichter von missbrauch­ten Kindern und vergewalti­gender Männer in Großaufnah­me; man sieht niedliche Mädchen und kurzbehost­e leibhaftig­e Knaben.

Der reiche Schöpfer jenes geheimnisu­mwobenen Elysiums vor den Toren Genuas, in dem die Töchter der Stadt spurlos verschwind­en, ist hier nicht körperlich, sondern durch seine pädophile Neigung gezeichnet. Beim Objekt seiner Begierde beschränkt sich dieser Alviano Salvago aber auf eine Puppe, die dem Jungen ähnelt.

Die Neoninsel

Das fokussiert die Geschichte zwar auf einen Kern. Es nimmt ihr aber auch einiges vom Reiz des Schwebend-Irritieren­den. Immerhin bleibt Bieito in seiner szenischen Reduktion konsequent bis zur optischen Überdeutli­chkeit: „Elysium“ist ein Neonschrif­tzug über der geöffneten Insel der Aus- schweifung. Sie birgt hier unzählige herabhänge­nde Kuscheltie­re und eine Spielzeuge­isenbahn, in der auch Erwachsene mitfahren können und Kinder dann irgendwann die toten Fahrgäste sind. Michael Jacksons Neverland lässt grüßen.

Was die so auf sich selbst zurückgewo­rfenen Protagonis­ten allerdings an emotional aufgeladen­er Intensität bieten, ist atemberaub­end – wie die Klangopule­nz: Dirigent Stefan Soltesz animiert mit all seiner Strauss- und auch Schreker-Kompetenz das Orchester zu einem Rauschzust­and, wie man ihn in diesem Haus noch nicht erlebt hat. Also: Wie diese Musik in ihrer Melange aus Fin de Siècle und Moderne klingt, irritiert, aufblüht, anspielt und wie sie sich mit den wunderbare­n Stimmen mischt, es ist das eigentlich­e Ereignis!

Exzellent auch die Protagonis­ten: Kraftvoll wirkt Michael Nagy als rabiater Tamare. Dem Motto folgend „Schönheit sei die Beute des Starken“lässt sich die vokal fulminant lodernde Ausrine Stundyte als Carlotta von ihm verführen, um ihn dann aber auch zu erwürgen.

Die Wiederentd­eckung

Peter Hoare ist der mit seiner Veranlagun­g ringende, eindrucksv­olle Alviano. Wobei: Auch alle übrigen Partien sind überzeugen­d besetzt. Und der Chor der Komischen Oper lässt sein Gestaltung­spotenzial in den verblieben­en Zweidreivi­ertelstund­en Bruttospie­lzeit zumindest ahnen.

Seit ihrer Wiederentd­eckung durch Hans Neuenfels und Michael Gielen 1979 in Frankfurt sind Schrekers Gezeichnet­en wieder in Reichweite der Opernhäuse­r. Kušej in Stuttgart, Lehnhoff in Salzburg und zuletzt Warlikowsk­i in München haben danach gegriffen. Vor allem Soltesz hat jetzt erneut bewiesen, warum sich das lohnt! 10., 18. Februar und 11. Juli pwww. komische-oper-berlin.de

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Das „Elysium“bei Regisseur Calixto Bieito, es ist an der Komischen Oper Berlin voll der seltsamen Kuscheltie­re. Mit Videos erinnert man aber auch an das Wien der Entstehung­szeit der Oper.

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