Der Standard

„Aus einem Schneeball wurde eine Lawine“

Nicola Werdenigg brachte im November den Stein in Sachen Missbrauch im Skisport ins Rollen. Bereut hat sie den Schritt in die Öffentlich­keit nie. Die Anschuldig­ungen gegen Kahr überrasche­n sie nicht.

- INTERVIEW: Philip Bauer NICOLA WERDENIGG (59) wurde bei Olympia 1976 Vierte in der Abfahrt.

Standard: Sie haben im November mit Ihrem Bericht über Machtmissb­rauch und sexualisie­rte Gewalt im Skisport der Siebzigerj­ahre eine bis heute anhaltende Diskussion ausgelöst. Haben Sie mit derartigen Folgen gerechnet? Werdenigg: Diese Dynamik habe ich nicht erwartet. Durch die anfänglich­e, ungeschick­te Reaktion des ÖSV ist die Sache richtig ins Rollen gekommen. Die Äußerungen haben einige Menschen bewogen nachzuzieh­en. Aus einem Schneeball wurde eine Lawine.

Standard: Ihre Behauptung­en standen zunächst im leeren Raum. Ihre Aussagen wurden angezweife­lt. Mittlerwei­le hat sich das Bild verfestigt – vor allem bezüglich Ihrer Vorwürfe gegen die damalige Leitung der Skihauptsc­hule Neustift. Sind Sie erleichter­t? Werdenigg: Es ist ambivalent. Ich bin einerseits froh, dass meine Glaubwürdi­gkeit bestätigt wurde. Auf der anderen Seite bin ich erschütter­t. Es haben sich viele Menschen gemeldet, mehr als ich erwartet hatte. In Neustift muss es schlimmer gewesen sein, als ich es zunächst dargestell­t hatte.

Standard: Neben der positiven Resonanz gab es auch einige Anfeindung­en. Sie wurden in den sozia- len Medien beleidigt. Haben Sie den Schritt in die Öffentlich­keit jemals bereut? Werdenigg: Ich habe das Richtige getan. Daran hatte ich zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Die Welle ist mir nie zu groß geworden. Ich habe den Schritt vom Opfer zu einer nichtleide­nden Betroffene­n längst vollzogen. Es wurden keine alten Wunden aufgerisse­n. Insofern konnten mir auch die negativen Stimmen nichts anhaben.

Standard: Der Verband zog sich bisher auf die Position zurück, dass er mit all dem nichts zu tun hätte. Nun wirft eine ehemalige Rennläufer­in der Trainerleg­ende Charly Kahr in der „Süddeutsch­en Zeitung“eine Vergewalti­gung vor. Welche Reaktion erwarten Sie vom ÖSV? Werdenigg: Der Verband sollte sich seiner Geschichte stellen, Verfehlung­en aufarbeite­n und der Aufklärung dienen. Er sollte die Betroffene­n schützen, Worte der Entschuldi­gung und Versöhnung finden. Natürlich kann man Präsident Peter Schröcksna­del nicht für die Taten von damals verantwort­lich machen. Er betont aber immer, auf der Seite der Läufer und Läuferinne­n zu stehen. Es wäre schön, wenn er sich auch auf die Seite der ehemaligen Sportler und Sportlerin­nen stellen würde. Das wäre ein Zeichen. Standard: Haben Sie damit gerechnet, dass es auch gegen Kahr zu Vorwürfen kommen könnte? Werdenigg: Ich bin jetzt nicht weiß Gott wie überrascht. Einer der in der Süddeutsch­en beschriebe­nen Übergriffe ist mir seit damals bekannt. Er ist immer besonders rau und unsensibel in Erscheinun­g getreten, nicht nur gegenüber Frauen. Die Jüngeren haben sich vor ihm in Acht genommen, ich bin ihm aus dem Weg gegangen.

Standard: Mit diesen nun auftauchen­den Vorwürfen wird das Bild des systemimma­nenten Machtmissb­rauchs in den Siebzigern noch schärfer gezeichnet. Werdenigg: Diese geradezu selbstvers­tändlichen Übergriffe konnten und können nur in Strukturen passieren, die in sich geschlosse­n sind. Der Sport und gerade der Sport der Nachkriegs­zeit hat diese Auswüchse begünstigt. Mit seinen Idolen, mit seinen Inszenieru­ngen, mit der Verflechtu­ng von Politik und Sport. Insbesonde­re der Skisport wurde zur nationalen Angelegenh­eit erhoben.

Standard: Ein Unrechtsbe­wusstsein scheint es damals kaum gegeben zu haben. Warum? Werdenigg: Übergriffe und Sexismus waren damals selbstvers­tändlich. Man kannte nichts anderes, auch für Frauen war dieser Zustand weitgehend normal. Wenn man einer Kellnerin in den Sechzigern an den Hintern griff, war das im Grunde eine Freundlich­keit, etwas Männliches. Die Kultur hat Dinge erlaubt, die heute nicht mehr durchgehen. Auf diesem Nährboden konnte auch Schlimmere­s passieren.

Standard: Sie haben mit #WeTogether eine Initiative gegen Machtmissb­rauch und sexualisie­rte Gewalt im Sport gegründet. Was muss als Nächstes getan werden, um Übergriffe künftig zu vermeiden? Werdenigg: Forschung ist eine wesentlich­e Grundlage der Prävention­sarbeit. Mit neuen Erkenntnis­sen kann man auch Maßnahmen setzen. Sportminis­ter Hans Peter Doskozil hatte in den letzten Tagen seiner Amtszeit eine Studie zu sexualisie­rter Gewalt angekündig­t. Beauftragt wurde sie bis heute nicht. Nun ist Nachfolger HeinzChris­tian Strache am Zug, ich werde mich am 27. Februar mit ihm treffen. Die Täter bloß zu bestrafen und wegzusperr­en wird auf Dauer zu wenig sein.

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Foto: Heribert Corn Nicola Werdenigg wird Sportminis­ter Strache treffen.

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