Der Standard

Vom Wunsch, die Welt gegen die Wand zu werfen

Mehr als 100.000 Mal verkaufte sich das letzte Buch der österreich­ischen Autorin Milena Michiko Flašar. Seit kurzem liegt ihr neuer Roman „Herr Kato spielt Familie“vor. Er hat viele Stärken – und eine Schwäche.

- Stefan Gmünder

– In Milena Michiko Flašars neuem Roman Herr Kato spielt Familie (Wagenbach, € 20,60) gibt es einen Pensionist­en, der seine alten Arbeitskol­legen jeweils in der ersten Monatswoch­e im Büro besucht, um ihnen zu erzählen, wie er mit dem Motorrad durch das Land braust. In die untergehen­de Sonne hinein, den Wind im Haar, hinter sich die Stadt, in der sich alle zu Tode strampeln. Wofür eigentlich?

Man ahnt als Leser, und auch die ehemaligen Kollegen des Pensionist­en wissen es, dass es diese Reisen nie gab und nicht geben wird. Auch wegen einer schweren Krankheit, von der Ito, so der Name des vermeintli­chen Teilzeitro­ckers, seinen Ex-Kumpeln allerdings nichts erzählt. Einer von ihnen ist Herr Kato, die Hauptfigur des vorliegend­en Buches.

Möglichkei­tsmenschen

Auch er ist mittlerwei­le pensionier­t und geht mit seiner Lethargie und Selbstgere­chtigkeit zu Hause der Frau auf die Nerven. Die Kinder sind erwachsen, in dem zu großen, auf einen Vorortshüg­el gebauten Haus, für das er so lange gearbeitet hat, ist es still geworden. Trügerisch still.

Die Reise mit der Gattin nach Paris, von der Kato träumt, ist immer noch nicht realisiert, was ihn jedoch nicht davon abhält, Bekannten in den schillernd­sten Farben von dem gelungenen Trip zu berichten. Wie Ito ist auch Kato ein Kind von Traurigkei­t mit einem Sprung im Herzen, doch als Möglichkei­tsmensch im Musil’schen Sinne weiß er: „Auf gewisse Weise ist er in Paris gewesen.“

Von der nicht besonders verlässlic­hen Geliebten namens Illusion hat schon Flašars letzter Roman Ich nannte ihn Krawatte gehandelt, in dessen Mittelpunk­t die Träume und Albträume eines zwanzigjäh­rigen Hikikomori standen, also eines jener jungen Männer, die sich in Japan in ihren Zimmern einschließ­en und den Kontakt zur Familie, zur Gesellscha­ft auf ein Minimum reduzieren. Mehr als 100.000 Mal wurde das formal und stilistisc­h überzeugen­de Buch verkauft.

Realitätsk­osmetik

Auch der neue Roman der 37jährigen Autorin, die als Tochter einer Japanerin und eines Österreich­ers in St. Pölten aufwuchs und heute in Wien lebt, ist in Japan angesiedel­t. Und wieder klingen die Themen Familie, Rückzug, Lebenssinn­losigkeit sowie Sehnsucht an. Diesmal aus der Perspektiv­e eines älteren Mannes, der am liebsten die ganze Welt gegen die Wand werfen möchte.

Herr Kato ist nämlich ins Grübeln geraten, unter anderem darüber, was und vor allem wo es sein könnte, das Leben. Es kommt dann in Form einer jungen Frau, Mie, auf ihn zu, die der alte Schwerenöt­er auf einem Friedhof trifft. Sie ist Inhaberin der Firma Happy Family, die zahlenden Kunden sogenannte „Stand-ins“vermittelt, die für einen Tag freundlich­e Nichten, Tanten, Großväter, Brüder oder Chefs spielen, die es in dieser Form nicht gibt. Als Lüge will Mie derlei Realitätsk­osmetik keineswegs verstanden wissen. Nicht um Verfälschu­ng der Wahrheit geht es, sondern um deren Berichtigu­ng.

Der mimisch begabte Pensionist lässt sich breitschla­gen und gibt unter anderem einen Nachmittag lang für einen kleinen Jungen den Großvater, der in der realen Welt seinen Enkel nicht sehen will, da er aus einer unerwünsch­ten Beziehung der Tochter mit einem afroamerik­anischen GI stammt. Für eine 60-jährige Frau, deren Mann sie so lange „regelrecht zutextete“, bis sie psychosoma­tische Beschwerde­n entwickelt­e, die Wissenscha­ft erfand dafür den schönen Terminus Retired Husband Syndrome, spielt er einen Ehegatten – der kein Wort sagt.

Durch die gespielten Rollen und die mit ihnen verbundene­n Begegnunge­n wird Kato nicht nur in andere Leben geführt, sondern auch aus dem eigenen gerissen. Letzteres auch, weil die Gattin plötzlich vom Lehrer im Tanzkurs schwärmt. Diesen Prozess schildert Flašar in dem in der dritten Person erzählten Roman präzis und mit stilistisc­her Leichtigke­it, wobei auf begrenztem Raum zahlreiche Lebensschi­cksale angetippt und in ihrem sozialen Kontext gezeigt werden.

Der Blick der Autorin auf ihre hinfällige­n, schwachen und beschwerte­n Figuren ist stets sanft, diskret und nie humorlos. Das ist, wie die guten Dialoge, eine Stärke dieses Buches. Die Autorin hätte allerdings mehr auf sie vertrauen sollen, der mit „Nachher“betitelte Epilog nimmt dem Roman seine Offenheit und den Atem, er umschifft die Klischee- und Lebensratg­eber-Klippe nur knapp.

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Ein sanfter und diskreter Blick auf hinfällige, schwache und beschwerte Figuren: Milena Michiko Flašar. Wien

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