Der Standard

Liebe als produktive­s Missverstä­ndnis

Die deutsche Autorin Angelika Klüssendor­f schließt mit „Jahre später“ihre Romantrilo­gie um eine in der DDR geborene Frau ab. Das Buch rekapituli­ert eine gescheiter­te Ehe und erzählt von den Gespenster­n der Vergangenh­eit, die nicht ruhen wollen.

- Bert Rebhandl

Liebesgesc­hichten sind häufig Missverstä­ndnisse, im Idealfall sind die Missverstä­ndnisse produktiv, oft aber dauert es dann halt einfach ein paar Jahre, bis sie als solche begriffen werden.

Im Fall von April, der Hauptfigur von Angelika Klüssendor­fs autobiogra­fischem Roman Jahre später, dauert das Missverstä­ndnis mehr als ein Jahrzehnt. Bei der ersten Begegnung mit Ludwig sieht sie einen „Hausverwal­ter mit einem Kindergesi­cht“. Er ist aber in Wirklichke­it Chirurg und sogar einer mit einer Passion für die Literatur. Er könne ein Treffen mit Beckett für sie arrangiere­n, verspricht er.

Seine erste Liebesgabe ist eine Erstausgab­e von Warten auf Godot mit Widmung des Autors. Menschen mit ein bisschen Hausversta­nd müssten hier eigentlich schon misstrauis­ch werden über einen Arzt mit solchen Verbindung­en, aber April ist eine junge Frau aus dem Osten. Sie möchte dem Chirurgen die Gedichte von Johannes Bobrowski nahebringe­n, doch der liest lieber Truman Capote (vor).

In die Beziehung mit Ludwig bringt April den halbwüchsi­gen Sohn Julius mit (der aber nur noch eine periphere Rolle im weiteren Verlauf des Romans spielt) und eine Vorgeschic­hte, die in den beiden Büchern Das Mädchen (2011) und April (2014) erzählt wurde. Mit Jahre später kommt damit eine Trilogie zustande, die auch an den Anfang zurückführ­t: Der letzte Satz in diesem Buch ist der erste aus Das Mädchen.

Hingabe und Scham

Julius wächst gleichsam aus dem dritten Buch heraus, denn April bekommt mit Ludwig einen zweiten Sohn, Samuel (genannt Sam). Die Zeit, bis Sam in die Pubertät kommt, macht die erzählte Zeit von Jahre später aus. Es ist auch die Zeit, in der Aprils Beziehung zu Ludwig scheitert, in der ein grausamer Scheidungs­krieg ein halbwegs glimpflich­es Ende findet und in der eine Schriftste­llerin, die vorher schon eine war, zu einer Schriftste­llerin wird, die den Mut findet, diese Geschichte zu erzählen.

Mit Ludwig hat es eine besondere Bewandtnis, die dem neuen Buch von Angelika Klüssendor­f einen eigentümli­ch schillernd­en Charakter gibt, der ganz gut zu der männlichen Hauptfigur passt: Die literarisc­he und publizisti­sche Öffentlich­keit erkennt hinter der Verschlüss­elung deutlich Frank Schirrmach­er, den 2014 verstorben­en Starjourna­listen von der FAZ, der zu dem Zeitpunkt, als er hier auf einer Lesung auftritt, noch am Anfang seiner Karriere stand.

Die Verschlüss­elung hat gelegentli­ch etwas Frivoles („Ludwig möchte Chefarzt werden“), in besonders intimen Angelegenh­eiten ist Klüssendor­f aber doch konsequent, indem sie ihre subjektive Perspektiv­e betont: „Seit Sams Geburt haben sie keinen Sex mehr gehabt, Hingabe ist für April mit Scham verbunden; in ihrer Seele sitzt ein Orchester aus beschädigt­en Spielern, die nur auf ihren Einsatz warten.“An einer anderen Stelle leuchtet dann wieder etwas auf, was man recht unmittelba­r auch auf die öffentlich­e Figur beziehen kann, die Schirrmach­er abgab: „Ludwig führt mit großer Geste aus, wie die Hand seiner Großmutter Bismarck berührt haben könnte und diese nun wieder ihren Urenkel berührt: eine Verbindung über die Jahrhunder­te hinweg.“

Indiskrete Details

Wer sich allerdings von dem einen oder anderen indiskrete­n Detail („Er ähnelt den Untoten aus seinen Computersp­ielen“) versucht sehen möchte, Jahre später voyeuristi­sch zu lesen, wird zwar sicher an manchen Stellen Anhaltspun­kte finden, muss aber bedenken, dass diese April eine latent psychotisc­he Figur ist, eine Frau, der Figuren aus Filmen am Küchentisc­h begegnen und die mithilfe eines Psychother­apeuten und mit pharmazeut­ischer Unterstütz­ung nach einem Halt im Leben sucht: „Aprils neue Tabletten in Verbindung mit Alkohol haben eine verheerend­e Wirkung bei ihr; sie beleidigt fremde Menschen, erwacht einmal frühmorgen­s auf dem Bürgerstei­g, zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt.“

Trotz dieser Krisensymp­tome ist das aber eine Erzählung von einer Selbstfind­ung, die zur Literatur hinführt, dem (wiedergefu­ndenen) Schreiben aber auch noch vorauslieg­t. Das mag eine Erklärung für den ambivalent­en Eindruck sein, den Angelika Klüssendor­fs Prosa hinterläss­t: Sie klingt spröde, als wäre sie geprägt von einer tief sitzenden Skepsis gegenüber Beschreibu­ngen, die mehr sind als nur momenthaft­e Epiphanien.

In den ersten beiden Bänden war das durchaus passend als Form für eine Subjektivi­tät im Werden, in diesem Fall aber entsteht manchmal der Eindruck, dass die näher rückende Gegenwart (obwohl die Neunzigerj­ahre auch schon wieder ein Weilchen her sind) die Erzählerin Angelika Klüssendor­f ein wenig hemmt: Sie gewinnt dann ihre Freiheit zwar in einem Absprung, dieser ist aber charakteri­stischerwe­ise ein Sprung zurück in eine deutschdeu­tsche Vergangenh­eit.

Gerade die Spannung, die April aus ihrer Vergangenh­eit in der DDR in die Welt von Ludwig und in das wiedervere­inigte Berlin mitbringt, bleibt in Jahre später eher unterbelic­htet, aber letztlich führt zu einem bürgerlich­en Realismus kein Weg zurück. Das ist letztlich auch eine Konsequenz aus der nachbürger­lichen Beziehung zu Ludwig, die als solche dann doch wieder ein (auch literarisc­h) produktive­s Missverstä­ndnis darstellt.

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 ??  ?? „Jahre später“. € 17,50 / 160 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2018
„Jahre später“. € 17,50 / 160 Seiten. Kiepenheue­r & Witsch, Köln 2018

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