Der Standard

Bewegung auf dünnem Eis

Fragt in ihrer sehr lesenswert­en „Biographie in Bruchstück­en“: „Wer war Ingeborg Bachmann?“

- Andrea Heinz

Ein wenig wirkt das Foto auf dem Cover, als würde Ingeborg Bachmann sich verstecken: Sie schaut hinter einer Mauerecke hervor, als wäre sie gerade erst entdeckt worden. Ina Hartwigs „Biographie in Bruchstück­en“trägt den Titel Wer war Ingeborg Bachmann?, und sie ist nicht die Einzige, die sich derzeit auf die Suche nach dieser so schwer zu fassenden Persönlich­keit macht.

Vor kurzem erschien Helmut Böttigers Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgesc­hichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, 2017 kamen erste Bände der Salzburger Bachmann-Edition auf den Markt, deren erster Band Male Oscuro aufschluss­reiche private Aufzeichnu­ngen bietet.

Das Interesse ist groß, und das nicht nur, weil es sich um eine der bedeutends­ten Dichterinn­en deutscher Sprache handelt, sondern auch wegen der Mythen und Gerüchte, die sich um diese Frau ranken. Die Liebesbezi­ehungen zu Paul Celan und Max Frisch, das selbstbest­immte Sexuallebe­n, der Alkohol, die Tabletten, der tragische Tod – Rätsel und Abgründe gibt es zur Genüge.

Bei einer so sagenumwob­enen, von Tabuthemen geprägten Bio- grafie bewegt man sich auf dünnem Eis – immer hart an der Grenze zur Indiskreti­on, potenziell ständig unter Rechtferti­gungszwang: Warum Verletzlic­hkeit und Verzweiflu­ng, warum intimste Details einer Autorin an die Öffentlich­keit zerren, wo doch ihre Bücher alles erzählen, was sie preisgeben wollte?

Ina Hartwig hat, das sei vorneweg gesagt, einen sehr guten Weg gefunden, sich auf diesem Terrain zu bewegen. Sie hat eine Biografie geschriebe­n, die zu lesen sich lohnt. In insgesamt neun Bruchstück­en nähert sie sich Ingeborg Bachmann. Die Kapitel beleuchten unterschie­dliche Facetten, den rätselhaft­en Tod der Dichterin 1973 ebenso wie die schwierige Liebe zu Paul Celan, ihr ambivalent­es Verhältnis zum Vater (einem NSDAP-Mitglied der ersten Stunde), die Beziehung zum ehemaligen US-Außenminis­ter Henry Kissinger, ihre mediale Präsenz oder ihr reflektier­tes politische­s Engagement. Die desaströs endende Beziehung zu Max Frisch bekommt kein eigenes Kapitel, aber sie durchzieht das Buch wie ein Grundthema, taucht in Nebensätze­n, Fußnoten, Zeitzeugen­anmerkunge­n immer wieder auf.

Im Kapitel „Orgie und Heilung“geht es um das Sexuallebe­n der Autorin. In Athen kommt es zu be- sagter Orgie, deren Teilnehmer neben Bachmann ihr Reisebegle­iter Adolf Opel und zwei junge Griechen sind. Man kann, in abgewandel­ter Form, im Wüstenbuch davon lesen. Oder in Opels Erinnerung­sbuch Wo mir das Lachen zurückgeko­mmen ist … Auf Reisen mit Ingeborg Bachmann, in dem er 2001 all die „skandalöse­n“Erlebnisse veröffentl­ichte.

Das andere Gesetz

Die Frage, ob es richtig oder nötig ist, intime Details aus dem Leben der Dichterin preiszugeb­en, stellt sich nicht mehr – sie sind bereits in der Welt. Hartwigs Verdienst ist, dass sie nicht nur nacherzähl­t, sondern dass sie diese Geschichte einordnet: „Wichtig – für uns – ist ohnehin weniger das Vorkommnis als solches als vielmehr die Frage, was es für Bachmann bedeutet. Wichtig an der Orgie ist ihre Funktion, auch ihre Wunschstru­ktur, die sich im literarisc­hen Gestaltung­sversuch offenbart.“

Hartwig verharrt nicht in biografisc­hen Details, sie zieht immer wieder die Linie zum literarisc­hen Werk. Für die Autorin und Denkerin war die Orgie eben auch eine Möglichkei­t, etwas darzustell­en, das sie als das „andere Gesetz“bezeichnet­e: eine utopische Einheit, die Grenzen des Egos, des Geschlecht­s oder der Konvention zu überschrei­ten vermag. Adolf Opel ist, neben Marianne Frisch, Martin Walser oder Henry Kissinger, einer der Zeitzeugen, mit denen Hartwig gesprochen hat – im letzten Kapitel erzählt sie von diesen Begegnunge­n und Telefonate­n.

Besonders hier zeigt sich, wie disparat die Wahrnehmun­g der Dichterin bereits zu Lebzeiten und selbst unter Freunden war. Hartwig versucht, und das ist die große Qualität dieses Buches, gar nicht erst, ein eindeutige­s Bild der Autorin zu zeichnen. Sie lässt die vielen Facetten und Widersprüc­he nebeneinan­derstehen, räumt auch kleinen Details wie jenen Ohrclips, die Bachmann der Fotografin Renate von Mangoldt in Rom schenkte, Platz ein: „Die Ohrclips begeistern mich kolossal, so herrlich geschmackl­os, nein geschmackv­oll, so exzentrisc­h und lustig, wie sie sind!“

Keine eindimensi­onale, tote Ikone präsentier­t Ina Hartwig uns – sondern einen lebendigen, echten Menschen, dem man hier ein Stück weit näher kommen kann.

Ina Hartwig, „Wer war Ingeborg Bachmann?“. € 22,70 / 320 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017

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