Der Standard

Frau Storm und die Konvention­en

Mit „Sturm und Stille“hat ein vielschich­tiges Frauenport­rät gezeichnet. In „Solsbüll“erzählt er das deutsche Jahrhunder­t. Ein doppeltes Lektüreerl­ebnis.

- Gerhard Zeillinger

Zwanzig Jahre lang war sie seine Geliebte, dann wurde sie doch noch Frau Storm: Dorothea (Doris) Jensen, von ihm liebevoll Do genannt. Anfangs trennt sie der Altersunte­rschied, sie ist zwölf Jahre jünger. Als Storm sich in sie verliebt, ist sie sechzehn, er hält sie allerdings für dreizehn. Seine Vorliebe für Kindfrauen ist bekannt, das weiß auch Doris. „Mit kleinen Mädchen hatte er es“, gibt sie im Buch kund.

Der eigentlich­e Makel für die Gesellscha­ft ist ein anderer: Storm hat gerade erst geheiratet, als er die Beziehung mit Doris beginnt. Seine Frau Constanze ahnt vielleicht etwas, wahrt jedoch den Anschein, wie es die bessere Husumer Gesellscha­ft – zu ihr gehören die Jensens ebenso wie Storms Familie – erwartet. So kommt es, dass Doris zu Weihnachte­n für Constanze Tellerunte­rsätze häkelt, und Storm darf ungeniert in einem Brief schreiben: „Man hat auch so seine stillen Amusements.“Und das, wo alle so stolz auf die „Geradität“im Leben sind.

Als Constanze schwanger wird, geht es jedoch ernsthaft um den Ruf der Familien, und die Väter bestimmen: „Sie muss weg. Sie darf nicht hierbliebe­n.“Die Frau hat das Nachsehen – nicht der Mann, nicht Storm, der „hatte es gut, er durfte dichten. Ich musste gehen.“Mamsell Jensen wird aufs Land abgeschobe­n, zunächst kommt sie gar zu Storms Schwiegere­ltern, dann ins Haus eines Pastors. Und es folgen weitere Stationen, die Verbannung dauert lange. Ein paar Mal kommt es noch zu heimlichen Treffen zwischen ihr und Storm, doch der drängt zur Räson und schweigt, die beiden sehen einander zehn Jahre lang nicht.

Gegen Ende des Buches heißt es einmal: „Eine Liebesgesc­hichte dauert nie zu lange“– Doris will of- fenbar das Gegenteil beweisen, sie ist eine ebenso selbstbewu­sste wie fast schon emanzipier­te Frau, die sich von den Konvention­en ihrer Zeit nicht unterkrieg­en lässt.

Nur an der Oberfläche sieht alles nach 19. Jahrhunder­t aus, erst recht, wenn es im Bett zur Sache geht: „Geleitet von Ruhe und Ordnung, Liebe und Frieden, nahm ich ihn also auf in meinen Schoß“– so schildert Doris das erste Mal. Was für ein schamvolle­r Satz. Von Sex ist in dem ganzen Buch nicht die Rede, vielmehr geht es um das „Erzählen danach“: Von Storm dazu aufgeforde­rt, erzählt Doris nach jedem Liebesakt eine Geschichte – diese kurzen dazwischen­geschobene­n Kapitel sind mit „Après“überschrie­ben, es gibt deren insgesamt sechs.

Nachempfin­dung

Überhaupt ist das Erzählen Sache der Frau. Missfeldt übergibt uns den Roman aus der Perspektiv­e Dorotheas, er lässt sie die Geschichte erzählen, viele Jahre später, aus der Erinnerung und somit auch bereits in der Deutungsho­heit über Storms Leben.

Aber um dieses geht es gar nicht, vielmehr um das Porträt einer außergewöh­nlichen Frau, und da macht es gar nichts, dass das biografisc­he Material dazu relativ dürr ist. Ein Tagebuch, obwohl der Roman aus einem solchen zitiert, gibt es nicht, lediglich ein paar Briefe geben Auskunft, der Rest ist Erfindung, oder wie es im Klappentex­t heißt: Nachempfin­dung. Nicht zuletzt, weil zahlreiche Details und einzelne Schauplätz­e aus Novellen Storms übernommen und hier unauffälli­g eingebaut sind. Zitierte Literaturw­irklichkei­t, die diesen Roman eindrucksv­oll verdichtet.

Nun muss man wissen, dass Jochen Missfeldt auch ein großer Storm-Biograf ist, er selbst lebt an der Nordsee, und er kann meister- lich atmosphäri­sch schildern. Das alles ergibt, im Kontext von Storms Literatur, ein wunderbar sanftes Zeit- und Landschaft­sbild. Zudem beherrscht Missfeldt einen klassische­n, wohltuende­n Erzählton – man glaubt sich bald selbst in einer Storm-Novelle und atmet, wenn man so will, literarisc­he Nordseeluf­t. Dass das nicht gerade modernes Erzählen bedeutet, muss einen nicht stören, es ist eben ein sehr authentisc­hes Porträt.

Apropos: Wie Storm in seinen Novellen hat auch Missfeldt um die Handlung einen Rahmen gebaut, und der spielt in der heutigen Zeit: „Längst bin ich eingetrete­n in den Herbst des Lebens.“So könnte auch eine Novelle von Storm beginnen. „Ich“ist jener Gustav Hasse, der auch in Missfeldts anderen Romanen auftritt, das Alter Ego des Autors. In Sturm und Stille hat er nur eine Mittlerfun­ktion, indem er sich als Chronist, als der eigentlich­e Urheber der Geschichte deklariert, der hinter der Erzählerin steckt: „Ich bin es, der ihr die Worte in den Mund legt, das nehme ich mir heraus.“

Dieser Gustav Hasse – ehemaliger Kampfflieg­er wie der Autor selbst – ist vor allem Protagonis­t und Erzähler in Missfeldts großem Deutschlan­droman Solsbüll, eine stark autobiogra­fische Familiench­ronik, die der Rowohlt-Verlag zeitgleich mit Sturm und Stille auf den Markt gebracht hat. Eigentlich sind es drei Generation­en Hasse, Großvater, Vater und Sohn, alle drei heißen Gustav. „Gustav Hasse, der jüngste und letzte“, springt in der Zeit herum, in der Familienge­schichte ebenso wie in der Welt von Theodor Storm.

Solsbüll ist kein neuer Roman. Als das Buch 1989 in einem kleinen bayrischen Verlag erschien, ging es in der Wendestimm­ung unter, offenbar war es der falsche Augenblick für einen großen Deutschlan­d- und Generation­en- roman, der alles bereithält, was das „deutsche“Jahrhunder­t ausmacht: zwei Weltkriege, der Wahnsinn des Nationalis­mus, die humanitäre Katastroph­e.

Die Männer treten in dieser Geschichte zurück, sie bleiben im Krieg, die eigentlich­en Helden sind die Frauen. Genau genommen Großmutter und Tante, die den 1941 geborenen „letzten“Gustav großziehen. Beide sind Hebammen, also Lebenshelf­erinnen und somit Antipoden zu den „Kriegsmänn­ern“. Sie bleiben aufrecht, wenn ihre Umgebung den menschlich­en Niedergang probt.

Die ganze Zeitgeschi­chte dieses gewaltigen 20. Jahrhunder­ts spiegelt sich im Lebensschi­cksal der Frauen, das in einem kleinen Städtchen tief im Norden, zwischen Flensburg und Kiel, verortet ist. Die kleine Welt und die große Geschichte. Solsbüll ist zwar ein fiktiver Ort – er kommt übrigens auch in Sturm und Stille vor –, was sich dort zuträgt, ist freilich eine weltläufig­e Wirklichke­itssaga.

Sie gilt es ebenso zu entdecken wie den Autor Missfeldt, der 1975 mit einem Gedichtban­d reüssierte (wie geht das zusammen, Luftwaffen­pilot und Lyriker?), ehe er später zum Romancier des Nordens wurde, der gekonnt Natur, Literatur und Zeitgeschi­chte verknüpft.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria