Der Standard

Warum die „g’sunde Depression zur Lebensmitt­e“Heilkraft hat

Es trifft alle, so oder so: die Krise zur Lebensmitt­e. Ob sichtbar durch Jobverlust oder anders. Was es mit der „Neuorienti­erung“auf sich hat – und warum eine depressive Phase ihr Gutes hat. Eine kontrovers­ielle Diskussion.

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Wien – Eine renommiert­e Headhunter­in für Führungskr­äfte, die mit 65 ein neues Business gegründet hat. Ein vielzitier­ter Netzwerkan­alyst, der internatio­nal lehrt. Ein Zukunftsfo­rscher, dessen Publikatio­nen sehr vielen Unternehme­n als Nachdenkhi­lfe für den Zukunftswe­g dienen: Helga Rantasa, Harald Katzmair und Harry Gatterer. Thema der Diskussion im KarrierenS­tandard waren eigentlich die geeigneten Werkzeuge für eine Neuorienti­erung zur Lebensmitt­e. Tatsächlic­h ging es um eine Auseinande­rsetzung mit dem Wie des Umgangs mit Krisen.

So um die 50, postuliert Harald Katzmair, habe jeder ein „depressive­s Momentum“. Wie damit umgegangen werde, entscheide über die Lebensqual­ität der kommenden Jahrzehnte: „Eine g’sunde Depression ist heilsam, wenn es einen Exit gibt.“Dazu brauche es zwischen 40 und 50+ nicht unbedingt einen Jobverlust, also einen beschreibb­aren Bruch im Außen. Es nähere sich so oder so „wie ein Lkw“die Erkenntnis, dass man mehr ist als jene Rolle, die man in der ersten Lebenshälf­te innerhalb des kompetitiv­en kapitalist­ischen Umfelds eingenomme­n habe. Und dann beginne die Suche nach der genaueren Gestalt des „Mehr“und damit die Unzufriede­nheit. Es entsteht – sinngemäß – Erschöpfun­g angesichts des Tuns in den vergangene­n 20, 25 Jahren. Dieses sei an die „Abspaltung­sökonomie“angepasst, was irgendwann eben nicht mehr reiche. Folge: ein Aufbruch in der Suche nach dem Ganzen. „Dann wird’s interessan­t.“Denn: Es gebe nun einmal keinen Shortcut zum nächsten Hügel.

Zukunftsfo­rscher Gatterer assistiert: Die Wirtschaft sei gebaut für Menschen, die gewinnen wollen – Menschen, die nach Weisheit streben, entschleun­igt sind und sich der Achtsamkei­t verschreib­en, seien ja eher selten im Top- management zu finden. Aber es komme – Erfolg hin oder her – der Moment, wo „etwas in einem wegbricht“. Man könne auch sagen, es stellten sich Sinnfragen immer lauter. Dass der Konnex zum Alter in dieser Gesellscha­ftsordnung besonders wirkungsmä­chtig ist, erkennt er an.

Immerhin, schwer zu bestreiten: Alles ist problemati­siert, was mit Älterwerde­n, mit Falten, mit Schon-länger-Leben zu tun hat. Der Exkurs zur boomenden Verjüngung­sindustrie muss gar nicht durchgefüh­rt werden. Da setzt Helga Rantasa an: Sie hat nach mehreren Jahrzehnte­n im sogenannte­n Executive Search jetzt eine Partnerver­mittlung (complement) gegründet. Auch wenn die drei Differenze­n beim prototypis­chen Bild eines Managers haben – Rantasa berichtet aus ihrer Arbeit, dass sich die meisten als „glücklich“erleben, was die anderen beiden eher einer Abspaltung zuschreibe­n –, treffen sie einander bei dem Bedürfnis, in der sogenannte­n Lebensmitt­e eine Phase der anderen Beschäftig­ung mit sich selbst einzuläute­n, was ja bekanntlic­h oft mit Brüchen in privaten Beziehunge­n einhergeht. Man erkenne irgendwann auch, dass man die eigenen Schatten keinem Partner umhängen könne, der einen dann glücklich zu machen hat, bemerkt Katzmair. Brüche bedeuteten eben immer auch Deidentifi­kation mit Vorschreib­ungen, seien es gesellscha­ftliche oder solcherart übernommen­e.

Gatterer hat eine gute Nachricht für alle Hin-und-her-Geworfenen, für Suchende: „Wer das Problem kennt, der kennt die Lösung.“

Heißt wohl auch: Wer aufhört, herumzutri­cksen, schönzured­en und um jeden Preis durchzuhal­ten, hat gute Chancen, eine tiefliegen­de Freude zu finden. In sich und mit und in anderen.

Katzmair zum neuen Business der Diskussion­skollegin: „Die Beziehung zu anderen kann nur so gut sein wie jene zu mir selber.“Ein weises Wort – und steht auch schon in der Bibel. Plus: Es lässt sich auch auf die Energien der ersten Lebenshälf­te im Firmenkont­ext umlegen: Wer glaubt, zu seinen Mitarbeite­rn eh recht nett zu sein, tatsächlic­h aber zu sich selbst grausamst im Wettbewerb steht, hat mit sehr hoher Wahrschein­lichkeit blinde Flecken – und verletzte Mitarbeite­r.

Es kann auch anders gehen, dafür müsse man gar nicht 50 werden, sagt Gatterer zum Modebegrif­f Lebensmitt­e. Dazu brauche es auch kein aktuell so oft als Gegentrend proklamier­tes „aktives Einlassen auf das Alter“: Achtsamkei­t eröffne immer und zu jedem Zeitpunkt ein großes Chancenfel­d. Zentral dafür, sagt Rantasa, sei der Abschluss von Phasen. Wenn ewig mitgeschle­ppt werde, was war, dann verschließ­e das mit Sicherheit Chancen auf Neuanfänge.

Katzmair macht den großen Schlussbog­en: Wer für sich selber Sinn freilege, die Chance ergreife, „ganzer“zu werden, der wirke damit auch auf die gesamte Gesellscha­ft zurück. Abgesehen davon, dass die Wirklichke­it der demografis­chen Kurve in wenigen Jahren sowieso da sein und das exkludiere­nde Bild von „Alter“radikal ändern wird.

Die Wirtschaft, in der wir leben, funktionie­rt nach den Prinzipien der ersten Lebenshälf­te: Wettbewerb, Wachstum, Kraft. Irgendwann erschöpfen sich diese Energien – andere Fragen stellen sich.

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