Der Standard

Gemütsregu­ngen im Minutentak­t

Horváths „Der jüngste Tag“im Scala-Theater

- Katharina Stöger

Wien – Schon beim Einlass wird in der Bahnhofsst­ation gewartet. Dass Züge Verspätung haben, ist hier ganz normal. Man hat sogar Verständni­s dafür, dass man sich nur widerwilli­g hierhin begibt, wo nicht einmal der Express hält. Für die Bewohner des kleinen Ortes in Ödön von Horváths Der jüngste Tag hat diese Verspätung keine Konsequenz­en. Im Gegenteil, so kann man sich beim Plausch mit dem durchreise­nden Vertreter über die Mitmensche­n auslassen.

Als aber der stets korrekte Stationsvo­rstand Hudetz einmal verspätet sein Signal gibt, passiert eine schrecklic­he Entgleisun­g. Im Scala-Theater geht es in Peter M. Preisslers Inszenieru­ng um das menschlich­e Versagen. Dass endlich etwas passiert, darauf schienen die Figuren nur zu warten. Da kommt die Zugunglück­skatastro- phe gerade recht (amüsant als Chips essende Schaulusti­ge: Anna Sagaischek). Erst mit dem Zusammenst­oß kommt auch Leben in Körper und Gesicht von Hudetz (Christian Kainradl), der eben noch stoisch der Routine nachging. Bleibt zu klären, wer Schuld an dem Unglück hat. Abgelenkt durch den Kuss der Wirtstocht­er Anna, vergisst der Stationsvo­rstand seine Pflicht, doch ist sie es auch, die ihm ein falsches Alibi gibt und den Freispruch sichert.

Überzeugen­des Mienenspie­l

In Der jüngste Tag ist meinungsbi­ldend, was „die Leut’“sagen. Angelika Auer agiert als Frau Leimgruber als deren herrlich provokant-tratschend­es Sprachrohr. Und das allgemeine Urteil wird hier ebenso schnell gefällt und geändert, wie sich das beeindruck­ende Bühnenbild (Julia Krawczynsk­i) in sieben Bilder verwandelt. So wird ein harmlos wirkender Kuss auf einem idyllische­n Stationsbi­ld im Nu zu einem kriminalis­tischen, düsteren Tatort.

Vor allem überzeugt jedoch das Mienenspie­l der Darsteller (allen voran Susanne Preissl als Anna), in dem sich sämtliche Ängste, Gemütsregu­ngen und Provokatio­nen im Minutentak­t abwechseln. Schnell wird der gefeierte Held zum gejagten Mörder, das böse Weib (Vorstandsg­attin: Christina Saginth) zur armen betrogenen Ehefrau, der unnahbare Drogist (Jörg Stelling) zum Gutmensche­n. Schuldig macht sich jeder. Eine gelungene Produktion. Bis 3. 3.

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Foto: Bettina Frenzel Mitgenomme­n: Christian Kainradl und Christina Saginth.

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