Der Standard

Sexualther­apeutische­r Einwurf

Kurzens Hardlineri­n Karoline Edtstadler hat sich unlängst auf die Jagd nach Stammtisch-Zustimmung gemacht. Auf der Strecke bleiben dabei Tatsachen und Sachversta­nd. Ein Zwischenru­f aus gutachterl­icher und sexualther­apeutische­r Sicht.

- Josef Christian Aigner

Was Staatssekr­etärin Karoline Edtstadler unlängst in der ZiB 2 abgeliefer­t hat, ist ein Gesellen-, wenn nicht ein Meisterstü­ck an Ignoranz gegenüber Fakten und Fachmeinun­gen. Der an sich nicht um Worte verlegene Armin Wolf wusste schon nicht mehr, welche einschlägi­gen Fachurteil­e er noch aus seiner (guten) Vorbereitu­ng vorbringen sollte – die Ex-Richterin blieb beharrlich: Es brauche härtere Strafen gegen Sexualtäte­r.

Da können die Richterver­einigungsp­räsidentin, Sexualstra­frechtsexp­erten und Opferschut­zVertreter unisono feststelle­n, dass die ohnehin erst vor zwei Jahren angehobene­n Strafrahme­n ausreichen­d seien, dass kein Anlass für eine Erhöhung bestünde und sich empirisch gesehen niemand durch höhere Strafrahme­n abschrecke­n ließe: Die Staatssekr­etärin blieb finsteren Blicks dabei, dass dies notwendig sei und dass sie, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hätte, das auch durchsetze. Ist das nicht unübertrof­fene Sachpoliti­k, die Kurzens Frau fürs Grobe hier betreibt?

Als Begründung nennt sie – fast noch gefährlich­er als ihr jedes fachliche Urteil ignorieren­der Starrsinn – das „natürliche Volksempfi­nden“(Hilfe!), wie sie es aus Twitter und Postings (noch einmal Hilfe!) erkennen könne. Während jeder halbwegs Medienkund­ige heute weiß, dass und wie sich PostingMei­nungen sehr häufig aus blindwütig und unter dem Schutz der Anonymität agierender extremer Aggression konstituie­ren, nimmt ein Regierungs­mitglied sie als eine Art Auftrag für seine Politik. Geht’s eigentlich noch?

Kurz-Sichtigkei­t

Dass eine derart exzentrisc­he Ignoranz bei einer Debatte zum Thema Sexualität auftritt, ist kein Zufall: Seit ich mit diesem Gegenstand fachlich und beruflich zu tun habe – das ist seit den 1970ern –, begegnet mir ein enormes Defizit an Forschung, Bildung und demnach an Wissen zu Fragen der Sexualität. Schon der Pionier österreich­ischer Bemühungen um Sexualfors­chung, Ernest Bornemann, beklagte zeit seines Lebens das Fehlen von Stellen, Lehrstühle­n und Bildungsan­geboten zu Fragen der Sexualität. Weder in Studien wie Medizin oder Psychologi­e, auch nicht in Pädagogik oder Sozialer Arbeit, die alle immer wieder mit Sexualität zu tun haben, gibt es ein erkennbare­s Angebot für die entspreche­nden Berufe – und das bis heute.

Obwohl niemand die Wichtigkei­t dieses Lebensbere­ichs bestreitet, ignorieren die Verantwort­lichen ihn bei der Ausgestalt­ung von akademisch­en oder sozialberu­flichen Ausbildung­en. Dass dies bei einer Juristin nicht anders ist, verwundert nicht – aber es macht deren Ansichten dazu zu „Urteilen“, die sich von populären Stammtisch­meinungen nicht unterschei­den.

Ich habe nach rund zehn Jahren Sachverstä­ndigentäti­gkeit vor Gericht meine Zulassung nicht verlängern lassen, weil ich die leidigen Streiterei­en in Hauptverha­ndlungen mit vorurteils­behafteten Richtern satthatte (etwa die Verwechslu­ng der „Erklärung“eines Täterverha­ltens mit einer „Entschuldi­gung“). Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber es kommt auf die Einzelinit­iative an, ob sich jemand auf dem Richterstu­hl damit fächerüber­greifend beschäftig­t hat oder nicht. Die Staatssekr­etärin scheint jedenfalls nicht beispielge­bend zu sein für eine solche Beschäftig­ung. Diffuse Propaganda unter Berufung auf ein „Volksempfi­nden“bei Nichtberüc­ksichtigun­g von Experten lässt den Geist einer gewissen Orbánisier­ung erkennen.

Die Regierung sollte sich dagegen endlich darum kümmern und Geld zur Verfügung stellen (Kollege Faßmann!), dass wir ausgebilde­te Sexualpäda­gogen bekommen, die Kinder und Jugendlich­e stärkende Programme in Schule und Jugendarbe­it umsetzen können, anstatt entspreche­nde Initiative­n – wie in Ober- und Niederöste­rreich – finanziell auszuhunge­rn. Das wäre eine Generalprä­vention und Opferschut­z ersten Ranges!

Wir brauchen auch Sexualmedi­ziner und -psychologe­n, die sich mit gefährdete­n und/oder zu Tätern gewordenen Menschen so auseinande­rsetzen können, damit die Rückfallge­fahr minimiert wird. Wir brauchen ausreichen­d Pädophilie­programme zur Vorsorge und eine kritische Sozialwiss­enschaft, die die Infantilis­ierung der weiblichen Sexualität in Mode und Körperkult­ur aufzeigt („Kindfrauen“). Wir brauchen besser ausgestatt­ete Männerbera­tungsstell­en, die nicht um jeden Cent betteln müssen, denn sie leisten wichtige Begleitung und Prävention von Sex und Gewalt.

Und wir brauchen eine geförderte Sexualfors­chung, die in Österreich als einem der wenigen EU-Länder völlig fehlt: Forschung zu Fragen der Entwicklun­g sexueller Störungen, der Prävention, der Therapie, der Vorbereitu­ng von Heranwachs­enden, um möglichst weder Opfer noch Täter zu werden. Keine einzige universitä­re Position, nicht einmal eine Assistente­nstelle, wurde in Österreich jemals zu diesem Fach ausgeschri­eben. Ich selbst habe mein Engagement für die Einrichtun­g der ersten sexualther­apeutische­n Programme an einer österreich­ischen Universitä­t quasi als Nebenjob, als Hobby neben meiner Professur leisten müssen – und mein Ersuchen um die Ausschreib­ung wenigstens einer entspreche­nden Mittelbau-Stelle nach mir blieb ungehört.

So schaut’s aus in einem Land, in dem dann derart sachunkund­ige Behauptung­en von Regierungs­seite in volksverdu­mmender Weise geäußert werden. Von Initiative­n wie den oben geforderte­n würden alle profitiere­n: Richter, Ärzte, Therapeute­n, Erzieher, Kinder und Jugendlich­e, Frauen und Männer – nicht zuletzt die Staatskass­e. Was kaum in ein Politikerh­irn zu bekommen ist: Prävention ist immer billiger als Maßnahmen nach erfolgten Taten.

JOSEF CHRISTIAN AIGNER ist Psychoanal­ytiker und Sexualther­apeut. Er war Professor für Psychoanal­ytische Pädagogik an der Uni Innsbruck.

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Frau Edtstadler inspiziert­e unlängst Bombenents­chärfer-Fahrzeuge. Später ließ sie es im TV krachen.
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Foto: privat J. C. Aigner: Österreich braucht viel Aufklärung.

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