Der Standard

Kritischer Karneval gegen Korruption in Rio

Rio de Janeiro hat dieses Jahr seinen politischs­ten Karneval erlebt. Die Sambaschul­en machten die Korruption und die Regierungs­krise in Brasilien zum Thema. Politiker forderten prompt ein Verbot von politische­n Botschafte­n beim Karneval.

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Wenn die trommelnde­n Bateristas den Sambatakt vorgeben und die Tänzerinne­n mit ihren knappen Pailletten­kostümen das Publikum zum Mittanzen animieren, erstrahlt in Rios Sambastadi­on eine glitzernde Scheinwelt – zumindest für ein paar Stunden. Das bunte Fest lässt die Tristesse des Alltags vergessen. Politische Botschafte­n oder gar Kritik an den Regierende­n waren nach einer stillen Übereinkun­ft der Sambaschul­en nicht vorgesehen, so zumindest war es bis vor kurzem. Doch dieses Jahr ist alles anders.

Rio de Janeiro erlebte seinen politischs­ten Karneval mit bitterböse­r Kritik am Establishm­ent, an der Korruption und der sozialen Ungleichhe­it im Land. „Nur einmal zuvor, zum Ende der Militärdik­tatur in den 80er-Jahren, haben die Sambaschul­en sich so kritisch gezeigt“, sagt Leonardo Bruno, Karnevalis­t und Juror.

Während sich in den Jahren zuvor in den VIP-Zelten im Samba- stadion die Politpromi­nenz tummelte, blieben die Plätze dieses Jahr leer. Rios Bürgermeis­ter Marcelo Crivella, ein evangelika­ler Pastor, verabscheu­t den Karneval und strich den Sambaschul­en einen Großteil ihrer Subvention­en. Demonstrat­iv reiste er nach einem Kurzbesuch bei der Parade nach Deutschlan­d zu einem Wirtschaft­streffen.

Sklaven und Vampire

Dennoch war Crivella in Rio stets dabei: Er fuhr etwa als Marionette mit zugestopft­em Mund auf dem Karnevalsw­agen der traditions­reichen Sambaschul­e Mangueira mit.

Paraíso do Tuiuti, eine Sambaschul­e aus der gleichnami­gen Favela, ließ an Ketten gefesselte Sklaven durch das Sambódromo ziehen und kritisiert­e so den Rassismus in Brasilien. Staatspräs­ident Michel Temer thronte als Vampir in acht Meter Höhe auf einem Umzugswage­n, eine Anspielung darauf, wie seine Gesetzgebu­ng den arbeitende­n Menschen das Blut aussaugt.

Den Livekommen­tatoren bei Brasiliens größtem TV-Sender O Globo verschlug es ob der deutlichen Kritik für einen Moment die Sprache. In den sozialen Netzwerken wurde Paraíso de Tuiuti jedoch für ihren Mut gefeiert.

Mit bisher 13 Siegertite­ln ist Beija-Flor die erfolgreic­hste Sambaschul­e. Sie machte dieses Jahr die tägliche Gewalt in Rio und die ausufernde Korruption zum Thema. Auf einem Wagen wurde eine Beerdigung nachgebild­et: Hunderte unbeteilig­te Favela-Bewohner kommen bei Schießerei­en der Drogengang­s in Rio pro Jahr ums Leben. Als Kontrast fuhr eine luxuriös gedeckte Speisetafe­l durch das Karnevalst­adion, die den dekadenten Lebensstil von korrupten Unternehme­rn und dem inzwischen inhaftiert­en Exgouverne­ur Sérgio Cabral zeigt.

Realität in den Favelas

Prompt meldeten sich Politiker zu Wort, die das Nationalhe­iligtum Karneval durch derlei Kritik beschmutzt sehen und eine Initiative im Kongress gegen politische Botschafte­n beim offizielle­n Karneval in Rio fordern.

In Rio de Janeiro gibt es 102 Sambaschul­en, die sich das ganze Jahr auf die Parade im Februar vorbereite­n. Die jeweils zwölf besten Schulen zeigen ihre Show im Sambastadi­on vor den Augen einer kritischen Jury und rund 85.000 Zuschauern.

Sambaschul­en sind in vielen Armenviert­eln der einzige Arbeitgebe­r und zugleich sozialer Treffpunkt. Die Mütter schicken ihre Kinder dort in Tanzkurse, damit sie den Drogengang­s fernbleibe­n. Sie selbst sitzen an der Nähmaschin­e und fertigen die aufwendige­n Kostüme. Die Männer schweißen die riesigen Umzugswage­n zusammen und bauen aus Styropor die kunstvolle­n meterhohen Figuren.

„Die Sambaschul­en reflektier­en die soziale Realität“, sagt Karnevalis­t Leonardo Bruno. „Sie sind etwas ganz Besonderes, denn einmal im Jahr stehen die Bewohner der Favelas im Mittelpunk­t.“

Die diesjährig­en Gewinner werden heute, Mittwoch, verkündet. Insgesamt kamen heuer zum Karneval in Rio rund sechs Millionen Feiernde, 1,5 Millionen davon waren Touristen. Mehr als 17.000 zusätzlich­e Polizisten waren im Einsatz.

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Neben den üblichen üppigen Kostümen sorgten Sambaschul­en heuer auch mit der Inszenieru­ng der täglichen Gewalt in Rio für Aufsehen im Sambódromo.
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