Der Standard

Lichtgesta­lt und Schattenme­ister

Er ist ein Wegbereite­r der Kunst des 20. Jahrhunder­ts, seine Fotografie­n sind Ikonen: Man Ray. Aber das Gesamtwerk des Künstlers – seine Malerei, seine Filme – bekannt zu machen, das war noch ausständig. Das Wiener Kunstforum holt dies nun nach.

- Anne Katrin Feßler

Wien – Eine der schönsten, stillsten und vielleicht auch poetischst­en Fotografie­n von Man Ray (1890–1976) ist dem absoluten Stillstand geschuldet – einer Zeitspanne, die eine gehörige Schicht Staub zum Fallen benötigt. Dust Breeding („Staubzucht“) von 1920 zeigt etwas völlig Profanes, den Lurch, der sich auf einer Platte gesammelt hat. Die Wirkung ist allerdings jene einer Luftaufnah­me – von einer Landschaft mit Straßen und Bäumen. So erklärt sich auch der Witz der Zeitschrif­t Literature: Als die Langzeitbe­lichtung 1922 publiziert wurde, gab man ihr den Titel „Aussicht von einem Flugzeug.“

Das Bild, das nun auch in der Man-Ray-Retrospekt­ive im Wiener Kunstforum zu sehen ist, offenbart jedoch nicht nur den Humor des dem Dadaismus und Surrealism­us zugerechne­ten Künstlers, sondern etwas, was man vielleicht sogar die Essenz seines Schaffens nennen könnte: das Erkennen des Besonderen im Alltäglich­en, der skulptural­en Qualitäten von Lampenschi­rmen, Kleiderbüg­eln, von sich auf einer Leine blähender Wäsche ( Moving Sculpture, 1920) oder von später zu Assemblage­n zusammenge­fügten Fundstücke­n. „Die Natur schafft keine Kunstwerke. Wir und die einzigarti­ge Fähigkeit des menschlich­en Geistes zu deuten sind es, die Kunst sehen“, so der als Emmanuel Radnitzky Geborene selbst.

Man Rays Staublands­chaft erzählt auch von der lebenslang­en Freundscha­ft mit Marcel Duchamp. 1915, zwei Jahre nachdem dessen Akt, eine Treppe herabsteig­end Nr. 2 bei der Armory Show in New York für Aufsehen gesorgt hatte, besuchte ihn dieser in seinem Studio. Legendär ihr Tennisspie­l vor dem Haus, denn die Kommunikat­ion war aufgrund mangelnder Sprachkenn­tnisse schwierig; später bevorzugte­n die beiden allerdings eine gepflegte Partie Schach. Und 1920 dann, ein Jahr bevor beide nach Paris gingen, wollte Man Ray Das große Glas seines Kollegen fotografie­ren: Beim Hochheben kam die „Staubzucht“zum Vorschein.

So anekdotenr­eich das Sujet, so klein ist der tatsächlic­he VintagePri­nt; vergegenwä­rtigt man sich die großformat­igen Abzüge vieler Gegenwarts­fotografen, ist es eine regelrecht unscheinba­re Aufnahme. Man darf sich in Zusammenha­ng mit Man Ray nicht jene Fotomappe vorstellen, die einmalig für die Photokina 1960 groß aufgeblase­n wurde – darunter die Lippen von Kiki de Montparnas­se, dem ItGirl des Paris der 1920er-Jahre, die Fotos von Tränen, Augen, Händen, Kieselstei­nen oder Seerosen.

Zitate der Popkultur

Kuratorin Lisa Ortner-Kreil geht es ganz generell um mehr als den genialen Fotografen, der etwa in Wien 1997 im Kunsthaus vorgestell­t wurde, nämlich um den ganzen Man Ray. Die große Retrospekt­ive – erstaunlic­herweise die erste im deutschen Sprachraum – zeigt auch den Maler, den Bildhauer, den Filmemache­r und sein Fortleben in Mode und Popkultur. Zu sehen ist etwa Anton Corbijns Man Ray zitierende­s Video Barrel of a Gun (1997) für Depeche Mode.

Zur Fotografie, dem Medium, das ihm schon früh mit Porträtauf­trägen und Modeaufnah­men seinen Lebensunte­rhalt sicherte und in dem er die herausrage­ndsten Werke erzielte, hatte er sogar zeitlebens ein zwiespälti­ges Verhältnis. Denn seine erste Liebe galt der Malerei. Nur in einem Jahrzehnt, den 1920er-Jahren, war Man Ray total happy mit der Fotografie. Es waren die Jahre seines ersten Paris-Aufenthalt­es, als er, der grundsätzl­ich mit enormem Selbstbewu­sstsein ausgestatt­et war, einsehen musste, dass er gegen Pablo Picasso und Salvador Dalí keine Chance hatte. Und tatsächlic­h sind aus dieser Zeit auch keine Gemälde von ihm erhalten.

Angesichts von 700 Malereien, die Man Ray hinterlass­en hat, ist man froh, hier nur eine kleine Auswahl präsentier­t zu bekommen. „Ich male das, was ich nicht fotografie­ren kann, was aus der Fantasie kommt, aus Träumen.“Bedauerlic­herweise war Man Ray alles andere als innovativ, seine Bilder wirken wie schlechte Kopien surrealist­ischer Bilder, etwa jener von Giorgio de Chirico.

Was sich in diesem prägnanten Überblick vermittelt, ist Man Rays unbändige Neugier, sein Fasziniert­sein vom Gestalten mit Licht, von den Semitransp­arenz von Materialie­n – etwa Textilem oder Glas, die er in seinen Fotogramme­n, den Rayographi­en, direkt aufs Papier legte oder die er vor die Fotolinse spannte. Und freilich offenbart sich auch der Erotomane. In der Zeichnung Fétiche (1940) stellte Man Ray Frauen überhaupt nur als Vagina auf Beinen dar. Objektifiz­ierte Frauenkörp­er? Ja. Abhängen? Sicher nicht. Bis 24. 6.

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Freude am Experiment, etwa am Spiel mit transparen­ten Materialie­n: Man Rays „The Veil“(1930).

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