Der Standard

Obdachlos in Melbourne

Im vergangene­n Jahr wurde das australisc­he Melbourne zum siebenten Mal zur „lebenswert­esten Stadt der Welt“gekürt. Doch Menschen ohne Dach über dem Kopf, die vor Einkaufsze­ntren schlafen, trüben das Bild. Die Stadt geht nun hart gegen sie vor. Spaniens ne

- Urs Wälterlin aus Melbourne

Matte ist obdachlos und dauernd müde. Er verbringt sein Leben in den Straßen von Melbourne, geht von einem Ort zum anderen, scheinbar ziellos. Irgendwo in einem verlassene­n Hinterhof, zwischen weggeworfe­nen Konservend­osen und einer alten Matratze, hat Matte eine Ecke, in der er seine wenigen Habseligke­iten lagert. Doch er weiß nie, ob sie am Abend noch dort sind.

In nur zwei Jahren ist die Zahl der Obdachlose­n in der Stadt um 80 Prozent gestiegen. Das ergab im vergangene­n Jahr eine Stichprobe der Stadtverwa­ltung. Die Betroffene­n sind zwischen 26 und 60 Jahre alt. Einige sind drogensüch­tig, andere psychisch krank, andere sind vor häuslicher Gewalt geflohen. Doch eine Gruppe wird immer größer, stellen Sozialdien­ste fest. Jene, die sich schlicht kein Dach über dem Kopf mehr leisten können – unter ihnen Berufstäti­ge und ganze Familien.

Spekulatio­n treibt Preise

Die Immobilien­preise und Mieten in australisc­hen Städten gehören heute zu den teuersten der Welt. Spekulatio­n hat viel damit zu tun: die Möglichkei­t, Verluste aus der Verwaltung von Immobilien zum Teil von den Steuern abziehen zu können. Gerade in Melbourne stehen viele Wohnungen leer. Jenny Smith vom Konzil für die Obdachlose­n sagt, die Stadt solle endlich „dem Ruf vieler Experten nach mehr Investitio­nen in öffentlich­e und gemeinnütz­ige Immobilien­projekte folgen“.

Die Stadtbehör­den haben Obdachlose­n den Kampf angesagt. Die Polizei solle „frühzeitig intervenie­ren“und die Beamten der Stadt beim Entfernen der Ärmsten der Armen unterstütz­en. Generell müsse die Toleranzsc­hwelle für „Gerümpel auf der Straße“niedriger sein, so ein vergangene­s Jahr erlassenes „Obdachlose­nprotokoll“der Verwaltung.

Das Papier ist nicht das, was die Stadt eigentlich wollte. Laut einer vom Stadtrat knapp angenommen­en Änderung des Gemeindege­setzes hätte es letztes Jahr durch eine Gesetzesän­derung verboten werden sollen, auf öffentlich­em Boden zu „campieren“. Danach hätte sich jeder obdachlose Mensch straffälli­g gemacht, der im Park übernachte­t. Diese Pläne lösten einen Sturm der Entrüstung aus, selbst die Vereinten Nationen äußerten daraufhin die Sorge, die Gesetzesän­derung könnte „Obdachlosi­gkeit kriminalis­ieren“. Zähneknirs­chend kipp- te der damalige Bürgermeis­ter Robert Doyle die Pläne.

Doch das war nur eine Formalität. Auch das Protokoll habe nämlich zum Ziel, Menschen, die auf der Straße leben, zu diskrimini­eren, kritisiere­n Sozialverb­ände. Es schreibt etwa vor, dass Obdachlose nicht „in Gruppen schlafen“dürften. Sogar, welche Habseligke­iten sie mit sich führen dürfen, wird stipuliert: „Zubehör muss auf ein akzeptable­s Minimum beschränkt werden: zwei Taschen, die getragen werden können, und Bettmateri­al wie ein Schlafsack, eine Decke und ein Kissen“, so die Anweisung.

Besitz als Abfall entsorgt

Besitz, der von Obdachlose­n unter Brücken, neben Bäumen und in Parks liegen gelassen wird, während ihre Besitzer durch die Stadt wandeln, wird von den Stadtbehör­den eingesamme­lt. Das beschlagna­hmte Material werde anschließe­nd „aussortier­t“, so die Kritiker. Dabei würden Beamte entscheide­n, was „persönlich­er Besitz“sei und was als „Abfall“gelte. Die Hilfsorgan­isation Anonymous X berichtet von Fällen, bei denen Obdachlose­n die Weihnachts­geschenke der Angehörige­n eingesamme­lt wurden. Emma King, Geschäftsl­eiterin des Konzils für Sozialdien­ste in Melbourne, erzählt von einer jungen Frau, deren beide Säcke von den Behörden entsorgt worden waren. „Sie ging nur kurz zum Arzt und machte alles, wie es vorgeschri­eben ist.“In einer Stellungna­hme bestätigte die Stadtverwa­ltung die Praxis, wies aber darauf hin, dass bestimmtes beschlagna­hmtes Material in der Stadthalle abgeholt werden könne.

Für die Betroffene­n bedeutet das Protokoll eine zusätzlich­e Belastung in ohnehin schwierige­n Lebensumst­änden. Auch für Matte bleibt der Gedanke an eine eigene Wohnung ein Traum. Nicht, dass er viel Gelegenhei­t zum Träumen hätte. Sein größtes Problem sei, Ruhe zu finden, erzählt er. In einer Stadt voller Verkehr, voller geschäftig­er Menschen, voller Touristen – und voller Polizisten, die ein scharfes Auge auf Leute wie ihn hätten. So verbringt Matte den größten Teil seiner Tage und der Nächte mit der Suche nach Ruhe. Die findet er gelegentli­ch für ein paar Stunden im Vorortezug. Bis zur Endstation.

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Ein Blick auf Melbourne, wo sich immer mehr Einwohner das Wohnen in der „lebenswert­esten Stadt der Welt“nicht mehr leisten können.

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