Der Standard

Alles wartet auf Deutschlan­d

- Thomas Mayer

In der EU finden praktisch immer irgendwo Wahlen und Wahlkämpfe statt, irgendwo ist die Regierung eines EULandes nicht voll handlungsf­ähig, weil die Macht neu verteilt wird. Bei der stattliche­n Anzahl von inzwischen 28 Mitgliedst­aaten ist das auch kein Wunder. „Die Karawane zieht weiter“– das politische und wirtschaft­liche Leben der Gemeinscha­ft geht trotzdem weiter. So lautet eine beliebte Beruhigung­sformel, wenn es bei dem einen oder anderen Beschluss auf EU-Ebene klemmt, weil ein „Familienmi­tglied“nicht entscheidu­ngsfähig ist.

Sie ist nicht ganz falsch, wenn es sich um Staaten wie Luxemburg oder Zypern handelt. Oder auch um mittelgroß­e Länder wie Ungarn, wenn dort zwar keine Wahl stattfinde­t, aber eine EU-skeptische Regierung am Werken ist. Selbst wenn es nicht weniger als 542 Tage dauert, bis eine neue Regierung gebildet wird – wie zuletzt in Belgien –, muss das für das gemeinsame Europa kein Beinbruch sein.

Nun gibt es aber mit Deutschlan­d aktuell einen echten Sonderfall, der die EU seit Herbst empfindlic­h lähmt – und der das Potenzial hat, auf EU-Ebene gröberen Schaden anzurichte­n, wenn das noch länger so weiterging­e. Die Wahlen im größten und wirtschaft­lich stärksten EU-Land sind seit fast fünf Monaten vorbei, aber noch immer gibt es in Berlin „nur“eine Übergangsr­egierung. Diese wäre formell zwar voll handlungsf­ähig, könnte also mit den Partnern dringend anstehende Reformen beschließe­n, die seit gut einem Jahr überfällig sind: Vollendung der Bankenunio­n und Vertiefung der Eurozone zur Krisenpräv­ention; Reformen bei Asyl-, Flüchtling­s- und Migrations­politik, beim EUAußengre­nzenschutz, um nur die wichtigste­n zu nennen.

Aber die Übergangsr­egierung von Angela Merkel tut das nicht. Der Auftritt von Nochaußenm­inister Sigmar Gabriel beim EU-Treffen in Sofia wirkte wie die traurige Abschiedss­infonie eines Gefesselte­n mit verstimmte­m Instrument. Nächste Woche reist sein Kollege Peter Altmaier mit gebundenen Händen zum EU-Finanzmini­ster-Treffen.

Das gab es noch nie, dass eines der beiden großen EU-Gründungsl­änder aus der deutsch-französisc­hen Achse so lange ohne geklärte Machtverhä­ltnisse ist. Nun wartet das gemeinsame Europa mit Bangen darauf, dass in Berlin endlich wieder voll regiert wird. Krisen schlafen nicht. Sollte nach der FDP von Jamaika auch die SPD von Groko abspringen, dann hätte die EU ein Riesenprob­lem. Große Reformen gingen sich bis zur EU-Wahl 2019 kaum mehr aus.

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