Der Standard

Konstituti­ve Verdrängun­gen

Ein psychoanal­ytischer Blick auf islamistis­che Gewalt

- Georg Cavallar

Das Ziel der beiden Studien des französisc­hen Psychoanal­ytikers Fethi Benslama ist die Anwendung des „Projekts“von Freud auf die islamische Religion, deren „konstituti­ve Verdrängun­gen“ans Licht gebracht werden sollen. Benslama unterschei­det Islam und Islamismus, wobei er Letzteren als „eine islamische Version der Krise der Moderne“sieht. In den islamisch geprägten Ländern habe der Eintritt in die Moderne ohne die nötige Kulturarbe­it im Sinne Freuds stattgefun­den. Das habe zu einem gefährlich­en Cocktail aus Religiosit­ät, Kulturalis­mus, Pseudowiss­enschaft und gescheiter­ten Individual­isierungsp­rozessen geführt.

In dem Buch Der Übermuslim setzt Benslama den Beginn der Entstehung des Übermuslim mit der Demütigung durch die weltliche Macht Napoleons an. Die Islamisten hätten mit der These reagiert, die moderne Wissenscha­ft sei „in verschlüss­elter Form“im Koran enthalten. Die militärisc­he Niederlage war nach dieser Logik ein Ergebnis des schwachen Glaubens der Muslime. „Von daher die Selbstvorw­ürfe und die Buße, die Herabsetzu­ng, die Neuidealis­ierung und die heilige Pflicht, mehr und immer noch mehr muslimisch zu sein.“Der Übermuslim als muslimisch­es Über-Ich im Sinne Freuds war geboren.

Benslamas besonderes Interesse gilt dem Weiblichen im Zusam- menhang mit den Ursprüngen des Islam und seiner Beziehung zum männlichen Narzissmus. Viele Texte würden die Macht der Frauen in islamische­n Kulturen belegen. Männer reagierten mit dem Versuch des Hegens oder der Zerstörung dieser Macht.

Die Studie „Psychoanal­yse des Islam“enthält zwei ineinander verwobene Texte. Der erste besteht aus den Reflexione­n des Psychoanal­ytikers, der leider – trotz Untertitel­s – die metapsycho­logischen und damit nicht verifizier­baren Annahmen der Psychoanal­yse keineswegs „auf die Probe stellt“. Wie üblich bei hermetisch geschlosse­nen Denksystem­en bleibt das „Freud’sche Projekt“weitgehend unhinterfr­agt. Die psychoanal­ytische Begrifflic­hkeit und sehr anspruchsv­olle Formulieru­ngen machen die Lektüre zur Herausford­erung. Der zweite, in die psychoanal­ytische Studie verwobene Text ist ein Streifzug durch die arabische und islamisch geprägte Literatur, Poesie und Theologie. Hier interpreti­ert Benslama etwa die Geschichte­n im Kontext von Tausendund­einer Nacht oder die Erzählunge­n über Moses im Koran. Dieser Text ist eindeutig der spannender­e.

Fethi Benslama, „Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisi­erung treibt“. € 18 / 141 Seiten. „Psychoanal­yse des Islam. Wie der Islam die Psychoanal­yse auf die Probe stellt“, € 30 / 350 Seiten. Übersetzt von Monika Mager, Michael Schmid. Matthes & Seitz, Berlin 2017

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