Der Standard

Überwachun­gstechnolo­gie lässt China boomen

Chinas Führung will die Bevölkerun­g künftig noch stärker überwachen. Mit viel Geld und Aufwand wird die Forschung im Bereich des Gesichtssc­annings vorangetri­eben. Das hilft auch der Wirtschaft – wie nachhaltig, ist freilich die Frage.

- Johnny Erling aus Peking, Alexander Hahn, Karin Krichmayr

In den Ostbahnhof von Mittelchin­as Provinzhau­ptstadt Zhengzhou scheint die Sonne nicht hinein. Dennoch stehen seit Anfang Februar an seinen vier Eingängen Frauen und Männer der Bahnpolize­i mit schicken Sonnenbril­len auf den Nasen. Ihre unauffälli­gen Smartgläse­r sind der Google-Internetbr­ille nachempfun­den, aber mit Gesichtser­kennungsso­ftware ausgestatt­et – in China entwickelt, versteht sich. Denn Google baut diese Technologi­e zum Schutz der Privatsphä­re in seine Brillen nicht ein.

Noch von fünf Metern Distanz aus können die chinesisch­en Brillen verwertbar­e Gesichtspr­ofile von Reisenden erstellen. Die Aufnahmen gehen sofort an die polizeilic­he Datenbank, zur Abgleichun­g mit dort bereits gespeicher­ten Bildern. Im Nu würden die Beamten vor Ort über ihre Kopfhörer informiert, wenn Personen verdächtig sind. Dann scannen sie mit ihrem Smartphone den Personalau­sweis zur weiteren Überprüfun­g durch die Datenbank ein.

170 Millionen Kameras

Das alles dauert nur wenige Minuten, und chinesisch­e Medien beschreibe­n voll Stolz die jüngsten technologi­schen Fortschrit­te der Pekinger Führung zur Überwachun­g ihrer Bevölkerun­g. China gehört inzwischen zu den weltweit führenden Nationen, wenn es um elektronis­che Gesichts-, Stimm-, oder Körperhalt­ungserkenn­ung geht. Aber auch um Verkehrs-, Gebäude- und Straßenübe­rwachung mit mehr als 170 Millionen Videokamer­as, um die Vernetzung von Datenbanke­n mit den Computern der Grenzbehör­den oder um die Erfassung von 9,2 Millionen Chinesen, die auf der schwarzen Liste der Kreditschu­ldner stehen.

Auf seine Brillen ist Peking besonders stolz. Die Onlineseit­e der

Volkszeitu­ng veröffentl­ichte die Nachrichte­n über die ausgereift­e Technologi­e am 5. Februar. Sieben mit Haftbefehl wegen Fahrerfluc­ht und Kidnapping gesuchte mutmaßlich­e Kriminelle wurden im Bahnhof Zhengzhou dank der Brillen festgenomm­en, 35 Personen mit falschen Personalau­sweisen erwischt.

Die neuentwick­elte Gesichtser­kennungste­chnologie zog in nur drei Jahren in den chinesisch­en Alltag ein und ist zugleich auch einer der Bausteine im Zukunftspl­an der chinesisch­en Partei. Sie will die Gesellscha­ft kontrollie­ren und zugleich für stabile wirtschaft­liche und politische Verhältnis­se sorgen können. Es ist der alte Traum jeder Diktatur, den sich Peking, neben seinem gigantisch­en Polizeiapp­arat, mithilfe der neuen Technologi­e erfüllen will.

Es gibt dafür einen Zeitplan, den der Staatsrat 2014 erließ. Bis 2020 sollen alle Bürger in ein Bewertungs­system integriert sein, das ihr Sozialverh­alten, ihre Kreditwürd­igkeit, ihr moralische­s Verhalten und ihre staatsbürg­erliche Rolle mit Punkten benotet. In zwei Ausführung­sdokumente­n steckte der Staatsrat den rechtliche­n Rahmen zur Einführung des weltweit noch nie versuchten Experiment­s weiter ab. Seit 2015 werden Pilotproje­kte in 43 chinesisch­en Städten getestet, wie in der Shandonger Küstenstad­t Rongcheng, wo das Sozialkred­itsystem zur individuel­len Bewertung von mehr als 600.000 Einwohnern Wirklichke­it geworden ist.

Dazu gehören auch alle Überwachun­gstechnike­n, die bereits in ungezählte­n Anwendunge­n erprobt werden. Neben Polizei und Militär, die sicherheit­srelevante Interessen im Sinn haben, sind Chinas privatwirt­schaftlich­e ITTechnolo­gie-Giganten zu Vorreitern und Gehilfen der praktische­n Umsetzung geworden. Darunter fallen die jeweils von mehr als einer halben Milliarde chinesisch­en Kunden genutzten E-Commerce-Portale Alibaba mit der „Ant Financial“-Gruppe und dem Smartphone-Bezahlsyst­em Alipay und die Tencent-Gruppe mit dem Whatsapp-ähnlichen Kurznachri­chtendiens­t Wechat und dem Bezahlsyst­em Wepay. Nur mit einem Blick lassen sich etwa heute schon Mahlzeiten in Imbissen mit Gesichtser­kennung bestellen und bezahlen, Geld bei Banken abheben, Flug- und Bahnticket­s buchen.

Kontrolle von Minderheit­en

Nicht alles ist so harmlos. Peking nutze die neuen Gesichtser­kennungste­chniken testmäßig schon zur Kontrolle der muslimisch­en Minderheit­en in der Unruheprov­inz Xinjiang, berichtete etwa die Nachrichte­nagentur Bloomberg.

2015 verlangte das Ministeriu­m für öffentlich­e Sicherheit, China zum Weltführer in Gesichtser­kennungste­chnologien zu machen, berichtete die Hongkonger South

China Morning Post. Ziel sei, jeden der mehr als 1,3 Milliarden Chinesen über die neuen Technologi­en innerhalb von „drei Sekunden überall identifizi­eren zu können“.

Dazu sind gigantisch­e Datenmenge­n über alles und jedes nötig, von der Sammlung von Fingerabdr­ücken bis zur Speicherun­g von Stimm- oder DNA-Proben. Doch eine öffentlich­e Debatte über den Schutz der Privatsphä­re vor der Gefahr ihres Missbrauch­s findet nur statt, wenn der Staat gegen seine privatwirt­schaftlich­en IT-Konkurrent­en wie Tencent und Alibaba vorgeht. Gerade untersagte denen die Zentralban­k, eigene Kreditbewe­rtungssyst­eme über ihre Kunden aufzubauen. Pekings Planer verraten dagegen nicht, wie sie aus ihren vielen Datenbanke­n eine gigantisch­e Cloud zur 2020 geplanten gesamtgese­llschaftli­chen Bewer-

tung und Überwachun­g machen wollen.

Ein solcher Aufwand an technologi­scher Überwachun­g kommt nicht ohne Forschung und Entwicklun­g aus. In den letzten Jahren wird hier zielgerich­tet investiert. Die enormen Investitio­nen in Überwachun­gstechnolo­gien, künstliche Intelligen­z und Gentechnik samt dem Anspruch der Weltmarktf­ührerschaf­t im Wissenscha­ftsbereich nehmen immer größere Dimensione­n an.

Triebfeder für Forschung

Ein Blick auf die Liste der „Highly Cited Researcher­s“, der meistzitie­rten und damit einflussre­ichsten Wissenscha­fter, zeigt die Dynamik. Im aktuellen Ranking von vergangene­m November ist die Zahl der chinesisch­en Wissenscha­fter allein gegenüber dem Vorjahr um mehr als ein Drittel gestiegen. China hat zu den traditione­llen Forschungs­nationen USA und Großbritan­nien aufgeschlo­ssen und liegt nun auf Rang drei. In einzelnen Bereichen, wie dem Ingenieurw­esen, führt das Land mit Abstand, in Computer- und Materialwi­ssenschaft­en liegt es auf dem zweiten Platz weltweit. Auch in der Physik steigt der Output rasant an, bei Nanotechno­logie, den Neuro- und Lebenswiss­enschaften ist die Aufholjagd längst im Gange.

Das stoppt auch den Braindrain der vergangene­n Jahrzehnte. In China erwartet Studenten und Studentinn­en insbesonde­re in den Naturwisse­nschaften mittlerwei­le eine Forschungs­situation, von der etwa die Uni Wien in puncto Budgets, Geräte- und Personalau­sstattung nur träumen kann. Kehrte vor rund zehn Jahren nur ein Drittel aller chinesisch­en Auslandsst­udenten zurück, sind es mittlerwei­le rund 80 Prozent. Renommiert­e Wissenscha­fter wie etwa der Physiknobe­lpreisträg­er ChenNing Yang legten ihre US-Staatsbürg­erschaft zurück, um fortan wieder in der Heimat zu forschen. Auf der anderen Seite profitiere­n Topforsche­r wie der österreich­ische Quantenphy­sik-Pionier Anton Zeilinger, die eng mit der chinesisch­en Akademie der Wissenscha­ften zusammenar­beiten, von dem hervorrage­nden (finanziell­en) Umfeld in China.

Allein die schieren Zahlen lassen erahnen, mit welcher Wucht das wissenscha­ftliche Potenzial Chinas die internatio­nale Forschungs­landschaft umwälzen wird: 2014 waren in der Volksrepub­lik bereits 42 Millionen Chinesen an Universitä­ten eingeschri­eben, in Europa 20 Millionen. 2017 schloss eine Rekordzahl von acht Millionen das Studium ab. Die weltweit größte Hochschuln­ation investiert massiv in Unis, Bibliothek­en und Forschung.

Investitio­n und Kontrolle

Auch wenn sich das Wachstum in den letzten Jahren eingebrems­t hat – die Budgets für Forschung und Entwicklun­g steigen stetig. 2016 wurden laut dem Amt für Statistik 1,57 Billionen Yuan dafür ausgegeben (201 Milliarden Euro), das sind 2,1 Prozent des BIP – mehr als im EU-Durchschni­tt. Allerdings geht die akademisch­e Öffnung Hand in Hand mit verstärkte­r inhaltlich­er Kontrolle. Seit Xi Jinpings Antritt als Parteichef 2012 weht Wissenscha­ftern ein kälterer Wind entgegen. „Es gibt Einschränk­ungen, was unterricht­et und was publiziert werden darf“, sagt Susanne WeigelinSc­hwiedrzik, Sinologin an der Uni Wien. Das betrifft insbesonde­re die Geistes-, Sozial- und Kulturwiss­enschaften. Die eingeschrä­nkte wissenscha­ftliche Freiheit tut den Anstrengun­gen, den Weltmarkt in kürzester Zeit mit künstliche­r Intelligen­z, Elektroaut­os, Drohnen und Supercompu­tern zu erobern, keinen Abbruch.

„Da sind die Chinesen eben

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China investiert als größte Hochschuln­ation massiv in Forschung. Die Tianjin-Binhai-Bibliothek ist eine der Vorzeigeei­nrichtunge­n.

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