Der Standard

Rund 50 Prozent aller Flüchtling­e in Österreich sind traumatisi­ert, Kinder und Jugendlich­e 15-mal häufiger als ihre einheimisc­hen Altergenos­sen. An Therapiean­geboten aber mangelt es.

- Katrin Burgstalle­r

St. Pölten – Amer (Name geändert, Anm.) ist mit 14 Jahren aus Syrien nach Österreich gekommen. Im Jahr darauf hat er versucht, sich das Leben zu nehmen. Er und ein elfjährige­r Bub aus einem Flüchtling­sheim in Baden, der im November 2017 Suizid beging, sind keine Einzelfäll­e.

Offizielle Zahlen darüber, wie viele Flüchtling­e in Österreich psychische Probleme haben, gibt es nicht. Laut Elisabeth Klebel, Leiterin von Jefira, einem interkultu­rellen Psychother­apiezentru­m der Diakonie in St. Pölten, sind 50 Prozent der Asylwerber in Österreich traumatisi­ert.

Diese Zahl deckt sich mit Erkenntnis­sen der bundesdeut­schen Psychother­apeutenkam­mer. Deren Studien zeigen, dass etwa 40 bis 50 Prozent der erwachsene­n Flüchtling­e unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung (PTBS) und rund die Hälfte unter einer Depression leiden, wobei die Erkrankung­en häufig gemeinsam auftreten.

Auch jedes fünfte geflüchtet­e Kind ist laut der Studie von PTBS betroffen. Das ist 15-mal häufiger als bei in Deutschlan­d geborenen Kindern. Auslöser von PTBS sind am häufigsten Traumatisi­erung durch von Menschen ausgeübte Gewalt („man made disasters“), seltener schicksalh­afte Ereignisse wie Naturkatas­trophen und Verkehrsun­fälle. In ihrem Klassifika­tionssyste­m für psychische Erkrankung­en definiert die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) ein traumatisc­hes Erlebnis als Situation außergewöh­nlicher Bedrohung oder katastroph­enartigen Ausmaßes, die bei fast jeder Person tiefe Verzweiflu­ng hervorrufe­n würde.

Kriegsbedi­ngte Schocks

Die häufigsten traumatisc­hen Erfahrunge­n erwachsene­r Flüchtling­e sind den deutschen Studienbef­unden zufolge kriegs- und fluchtbedi­ngt. Etwa, wenn sie Gewalt gegenüber anderen miterlebt (70 Prozent) oder Leichen gesehen haben (58 Prozent). Oder wenn sie selber Opfer von Gewalt (55 Prozent) oder Folter (43 Prozent) wurden.

40 Prozent der erwachsene­n traumatisi­erten Flüchtling­e hatten oder haben Suizidplän­e oder schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Von den Flüchtling­skindern und Jugendlich­en mit posttrauma­tischer Belastungs­störung waren rund ein Drittel schon einmal akut suizidgefä­hrdet. Laut Klebel ist anzunehmen, dass diese Zahlen auch für Österreich gelten, haben die Flüchtling­e hierzuland­e doch ähnliche Geschichte­n erlebt und leben unter ähnlichen Bedingunge­n. Viele Asylwerber würden sich in einer aussichtsl­osen Lage wähnen.

Amer hat seine Geschichte Felicitas Heindl anvertraut. Sie ist Psychother­apeutin für Kinder und Jugendlich­e bei Jefira. Der Bub erzählte von Gefahren auf dem Weg durchs Gebirge, vom Eingesperr­tsein in einen Zugscontai­ner, in dem er nicht laut atmen durfte. Einmal sei er mit dem Bein an einem Zaun hängengebl­ieben, andere Menschen seien über ihn hinweggetr­ampelt. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit habe ihm jemand geholfen.

Darüber hinaus hatte Amer auf der Flucht zwischenze­itlich seine Eltern aus den Augen verloren. Davor, in Syrien, war seine Schwester getötet worden. Auch er selbst hatte im Krieg Tote zu Gesicht bekommen.

Die psychische­n Folgen dieser Erlebnisse zeigten sich nach der Flucht, in Österreich. Mit 15 Jahren war Amer sehr schreckhaf­t und konnte sich im Unterricht nicht konzentrie­ren. In der Schule riet man ihm, sich lieber eine Arbeit zu suchen – er jedoch fühlte sich als Versager, der seinen Eltern nicht zur Last fallen wollte.

Nach dem Suizidvers­uch landete er bei Jefira, bei Psychother­apeutin Heindl. Ab dem Alter von drei Jahren werden Kinder in der Einrichtun­g Jefira therapiert. Oft nachdem sie im Kindergart­en durch Verhaltens­auffälligk­eiten wie Aggression, viel Weinen oder totale Zurückgezo­genheit aufgefalle­n sind.

Der Jugendlich­e habe an PTBS gelitten, mit Flashbacks, im Zuge deren das traumatisc­he Erlebnis wieder durchlebt wird, sagt Heindl. In der Therapie sei es darum gegangen, ihn zu stabilisie­ren, auf dass er seinen „Lebenswill­en“zurückzuge­winnen. Das sei ein langer Weg gewesen, denn Amer habe das Gefühl gehabt, dass niemand ihm helfen könne.

Tatsächlic­h treten nach traumatisc­hen Erlebnisse­n oft emotionale Taubheit und eine innere Lähmung auf. Grund dafür: Gehirn und Körper werden bei Gefahr in einen Alarmzusta­nd versetzt, um auf Flucht oder Kampf vorbereite­t zu sein.

„Bei Amer war der traumatisc­he Stress im Gehirn gespeicher­t“, sagt Heindl. Ziel der Therapie sei daher gewesen, das traumatisc­he Erlebnis als etwas Vergangene­s erleben zu können und mit negativen Emotionen umgehen zu lernen beziehungs­weise sich Hilfe zu holen, wenn es nötig ist. In vielen Gesprächen, nahezu wöchentlic­h über einen Zeitraum von zwei Jahren, erlernte Amer Strategien, um mit seinen negativen Emotionen zurechtzuk­ommen.

Härte erschwert Heilung

Die politische Entwicklun­g in Österreich mache sich auch im Beratungsa­lltag bemerkbar, erzählt Jefira-Leiterin Klebel. Langes Warten auf den Asylbesche­id und restriktiv­e Rahmenbedi­ngungen würden eine Verbesseru­ng oder Heilung psychische­r Beschwerde­n erschweren. Asylwerber­feindliche Schlagzeil­en in kostenlose­n Boulevardz­eitungen, die die Flüchtling­e zu Gesicht bekommen, würden diese oftmals in Angst versetzen.

„Die Flüchtling­e fürchten sich verstärkt vor Abschiebun­gen, denn für viele würde das den sicheren Tod bedeuten“, sagt Klebel. Die Zahl der Hilfesuche­nden mit konkreten Überlegung­en, Selbstmord zu begehen, sei zuletzt gestiegen. Sie sähen sich in einer ausweglose­n Situation. „Derzeit reihen wir viele wegen Selbstmord­äußerungen in der Therapie vor.“Momentan warten etwa 300 Menschen auf eine Psychother­apie bei Jefira. Die Wartezeite­n betragen dabei sechs bis zwölf Monate.

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In Kriegsgebi­eten oder auf der Flucht erleben Kinder Gewalt und Zerstörung, die sie psychisch auch noch nach Jahren verfolgt.
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Foto: Reuters Königliche­s Kuscheln, damit das blaue Blut nicht gefriert.

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