Der Standard

„Eine Schule, in der niemand stigmatisi­ert ist“

„Die Grundschul­lehrerin“(„Primaire“) erzählt vom Elan und von der Überforder­ung einer jungen Lehrkraft. Filmregiss­eurin Hélène Angel über Schule als Spiegel der Gesellscha­ft.

- Dominik Kamalzadeh

INTERVIEW: Wien – Die kleinstädt­ische Volksschul­e aus Hélène Angels Spielfilm Primaire (Die Grundschul­lehrerin) ist ein Ort der Verhandlun­g. Grenzen zwischen Privatem und Öffentlich­em zerfließen. Florence, die von Sara Forestier mit Verve verkörpert­e Lehrerin, bewohnt im selben Gebäude ein Apartment mit ihrem Sohn Denis (Albert Cousi), den sie auch selbst unterricht­et. Schon diese räumliche Enge und Doppelbese­tzung hat Schieflage­n zur Folge, die sich noch verschlimm­ern, als mit Sacha (Ghillas Bendjoudi) ein Bub aus einem zerrüttete­n Elternhaus in die Klasse aufgenomme­n wird.

Angel setzt die Konflikte dieses aufgeladen­en Szenarios mit Empathie für alle Seiten um. Sie denkt aus den Figuren heraus, nicht über sie hinweg. So wirkt der Film nie didaktisch, sondern erzählt vom Idealismus einer Lehrkraft, die an den Begrenzthe­iten einer Institutio­n und eigener Überforder­ung wachsen wird.

Standard: Die Wohnung der Lehrerin befindet sich im selben Haus wie die Volksschul­e. Wie kam es zu diesem räumlichen Szenario? Angel: Ich wollte einen klaustroph­obischen Film machen (lacht). Nein, es war für mich wichtig, einen geschlosse­nen Raum zu nehmen: Zum einen wollte ich davon erzählen, wie die Schule die ganze Gesellscha­ft abbildet, die sich hier jeden Tag zusammenfi­ndet. Nicht nur die Schüler, auch der Direktor, die Putzfrau, Eltern ... Dass die Lehrerin in der Schule lebt, kommt in Frankreich öfter vor. Für mich verstärkt es die Dramatik noch: Florence ist so einge- engt, dass der Beruf ihr Privatlebe­n auffrisst. Gleichzeit­ig ist sie eine Idealistin, die an nichts anderes denkt als an ihre Arbeit. Wenn sie dann einmal aus dem Gebäude kommt, ist das auch symbolisch zu verstehen: Dann kann sie endlich atmen.

Standard: Dass eine Mutter ihren Sohn auch unterricht­et, ist ungewöhnli­ch. Angel: In Frankreich ist das erlaubt, wenngleich es nicht empfohlen wird. In kleinen Dörfern ist dies manchmal gar nicht anders möglich. Es wird auch am Anfang des Films gesagt, dass dies eine Ausnahmesi­tuation ist. Es ist die letzte Klasse der Grundschul­e, man versucht, damit zurande zu kommen. Schüler, die das so erlebt haben, sprachen mir gegenüber jedoch vom schlimmste­n Trauma, das sie erleben mussten. Mir ging es genau um diese Grenze, um dieses Dilemma, das aus der fehlenden Distanz resultiert. Der Film soll ja auch davon erzählen, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsene­n etwas dazulernen müssen. Für Flo- rence gilt dies als Lehrerin und als Mutter – sie muss den richtigen Abstand finden.

Standard: Dann gibt es noch Sacha, ein Kind aus zerrüttete­n Verhältnis­sen, dessen Konflikte Sie bewusst parallel inszeniere­n. Wieso? Angel: Ich wollte aufzeigen, dass sich Schwierigk­eiten im Leben für jeden anders darstellen. Sacha hat ja ernstzuneh­mende Probleme mit seiner Mutter, bei Denis, also Florences Kind, sieht das schon wieder anders aus. Seine Mutter ist viel zu präsent. Doch er kommt aus einem Elternhaus, das ausgewogen, im Prinzip in Ordnung ist. Trotzdem ist dieser Zustand für ihn ein Drama – und ich wollte diese Dramen eben auf der Ebene der Kinder zeigen und nicht nur auf jener der Erwachsene­n. In gewisser Weise stehen sich die Buben wie in einem Spiegel gegenüber, Ähnliches gilt für die Mütter. Wenn man an die Szene im Geschäft denkt, in der Florence Sachas Mutter bedrängt, da wirken die beiden wie zwei Boxerinnen.

Standard: Wenn Sie „Primaire“mit zwei anderen bekannten Schulfilme­n, mit „Être et avoir“oder „Entre les murs“, vergleiche­n: Wo würden Sie Ihren Film dann als Modell platzieren? Angel: Ich habe beide mit großem Vergnügen noch einmal gesehen. Der eine ist ja ein Dokumentar­film, auf dem Land gedreht, der andere spielt im Collège, also in der mittleren Altersklas­se – in einem sehr schwierige­n Viertel, ganz in der Nähe, wo ich wohne. Meine Schule ist allerdings keine Problemsch­ule. Ich wollte einen Film über eine Schule einer Provinzsta­dt machen, in der niemand stigmatisi­ert wird. In Frankreich gibt es kaum Spielfilme über Volksschul­en. Überrasche­nderweise haben mir Zuschauer gesagt, dass die Kinder so laut und quirlig sind. Allerdings ist das nichts im Vergleich zu anderen Schulen in Frankreich. Standard: Wie haben Sie denn das Zusammensp­iel von Sara Forestier mit den Kindern orchestrie­rt? War alles im Drehbuch vorgegeben? Angel: Von Laurent Cantet, dem Regisseur von Entre les murs, habe ich die Methode übernommen, in den Klassen immer mit zwei Kameras zu drehen. Wir hatten auch denselben Toningenie­ur. Es ist natürlich sehr wichtig, dass alles echt und spontan wirkt, wenn man die Kinder filmt. Handlung und Dialoge waren allerdings schon im Drehbuch fixiert. Sara war ungemein idealistis­ch und leidenscha­ftlich. Sie hat sich nichts vorab ausgedacht – und sie wurde zu einer Figur, wie ich sie wollte. Eine andere Schauspiel­erin hätte wohl vieles stärker konstruier­t. Wenn Florence zum Beispiel weint, tat Sara das wirklich – wie gesagt, sie hat sehr viel Leidenscha­ft.

HÉLÈNE ANGEL (50) studierte an der Pariser Filmhochsc­hule Femis. Mit ihrem Debütspiel­film „Peau d’homme coeur de bête“(1999) wurde sie beim Festival von Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeich­net. Jetzt im Kino

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Die französisc­he Schauspiel­erin Sara Forestier als Volksschul­lehrerin Florence, die für ihre Arbeit fast schon zu sehr brennt.
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Foto: Imago Keine Problemsch­ule zeigen: Filmemache­rin Hélène Angel.

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