Claus Peymanns schwäbischer Kreidegreis
Zurück an alter Wirkungsstätte: Mit Burgtheater-Star Martin Schwab in der Titelrolle hat Claus Peymann Shakespeares „König Lear“am Stuttgarter Schauspiel eindrucksvoll inszeniert. Geboten wird eine politische Meditation an der Schwelle zur Neuzeit.
Heiterer, mit so viel unbeschwerter Kinderlaune, ist noch kein Lear in sein Verderben gelaufen. Mit funkelnden Äuglein malt der greise König einen magischen Kreis auf die Erde. Martin Schwab, der große Burgtheatermime, ist für diese Besteigung eines DramenAchttausenders nach Schwaben zurückgekehrt. Im Stuttgarter Schauspiel bietet ein anderer großer Greis, Claus Peymann, noch einmal alle Überredungskünste einer aufgeklärten Regiekunst auf.
Shakespeares König Lear enthält die bitterste Absage an die Mär von der überlegenen Weisheit des Alters. Einer bloßen Grille wegen opfert Lear seine Königswürde. Aus dem Bannkreis der Macht verbannt, erlebt er schmerzlich, wie der Solidarverband der Familie zerreißt. Sein Verstand trübt sich ein; er flieht die Gesellschaft der Menschen. Die reißen einander die Augen aus, weil es keinen Unterschied macht, ob man den Kollaps der geheiligten Ordnung mit eigenen Augen mit ansieht oder nicht. Lear fällt aus allen Wolken, denn: „Die alte Welt ist närrisch!“
Sie war aber auch selten so linde, so betörend klar wie in dieser Stuttgarter Reminiszenz an das Peymann-Theater der 1980er-Jahre. Der Sturm auf der nächtlichen Heide ist noch einmal ein Kunststück aus der Wunderkammer Karl-Ernst Herrmanns (Ausstattung): Der Regen sprüht in anmutigen Fächern, das Donnerblech regt sich wie ein aufs Blut gereizter Lindwurm. In den Zuschauerraum hinein aber wölbt sich, wie eine durchscheinende Hand des Todes, eine schwarze Tuchbahn. Man kann das Elend mit Händen greifen, und doch ist es kunstgewerblich geläutert.
Reise ans Ende der Nacht
Zu diesem Zeitpunkt hat Schwab, dieser funkelnde Narr mit dem widerborstigen Haar, bereits eine Reise ans Ende der Nacht zurückgelegt. Die Namen seiner Töchter hatte er anfangs fein säuberlich in den Kreidepferch eingetragen, ein Buchhalter aus eigener Machtvollkommenheit. Im Leinensmoking feiert er das Los des hohen Alters als Kindergeburtstag: Wie sehr ihn jede seiner Töchter am meisten liebt, will er hören („Die Jungen sollen an die Macht“). Die Reichsaufteilung soll passieren, nachdem er die Sprösslinge nochmals rasch wie zum Foto gruppiert hat. Die Krone drückt er sich behaglich selbst aufs Haupt. Die angeordneten Schmeichelreden möchte er wie Milchreis zu sich nehmen.
Die Katastrophe ist unausweichlich. Goneril (Manja Kuhl) und Regan (Caroline Junghanns) sind seidene Salonschlangen, die den unsichtbaren Baum der politischen Erkenntnis hüten. Das Kü- ken Cordelia (Lea Ruckpaul) wird den greisen Toren als Handke deklamierender Narr hinaus in die stürmische Nacht begleiten.
Da ist es bereits vorbei mit der alten Herrlichkeit. Durch drei Glastüren fegt Balkanjazz, sobald Lear sich am frühen Lebensabend zu amüsieren wünscht. Es schlägt bereits die historische Stunde der Edmunds (Jannik Mühlenweg): von „Bastarden“, die Intrigen im Schlangenledersakko spinnen, als müssten sie verruchte Geschicklichkeitsübungen absolvieren.
In solchen Augenblicken kommt das Peymann-Theater ganz zu sich. Da kann es den Umschlag von mythischer Vorzeit in echten Fortschritt behaupten. Es nennt dann alle Schurken beim Namen und stellt die Verblendung der Mächtigen zu Demonstrationszwecken vorbildhaft aus. Es ist viel vom „Menschen an sich“die Rede in dieser Stuttgarter LearFassung von Jutta Ferbers, vom gestirnten Himmel an der Epochenschwelle zur Neuzeit. Claus Peymann ist, aller Direktorenwürden ledig, auf den Kant gekommen.
Er behauptet noch einmal mit schönem Ernst die Errungenschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts: die Bühne als semiabstrakten Raum der Erkenntnis, als heilige Stätte des Mitleidens. Und das klappt ganz famos, weil das Stuttgarter Ensemble Kontakt zur grauen Vorzeit hält – und doch auch schon die bürgerlichen Deformationen in die Figuren einarbeitet. Als Charakterscharten. Zu nennen wäre hier der Gloster von Elmar Roloff, der bereits einen tadellosen Miller in Schillers Kabale und Liebe abgäbe.
So aber ist Lear, dem verblendeten Greis, auf Erden nicht zu hel- fen. Er wird, den Leichnam seiner Jüngsten in den Armen, langsam zur Seite kippen und verlöschen.
Die funkelnde Krone aber war während der ganzen, bejubelten und auch sacht ausgebuhten In- szenierung an einem Haken über der Schädelstätte gehangen. Der güldene Einsatz für ein Spiel, das Schwab und Peymann recht eindrucksvoll gewonnen haben. pwww. schauspiel-stuttgart.de