Einmal der „Kojak“sein
Mit „Fokus Mord“springt der ORF auf den fahrenden „True Crime“-Zug auf – Acht Folgen ab Dienstag
Wien – Paula S. ist 14, als sie überfallen und neun Stunden von ihrem Peiniger gefangen gehalten wird. Was ihr widerfährt, schildert in der Folge Der Sadist der neuen ORF-Reihe Fokus Mord, ab heute, Dienstag, um 21.05 Uhr auf ORF 1, ein Kriminalbeamter: „Dann ist sie an den Händen und an den Füßen mit Handschellen gefesselt worden.“Die Ermittler erkennen Parallelen zu einem Fall, der sich kurz zuvor ereignet hat, finden Spuren, ziehen Schlüsse. Am Ende ist ein Rätsel gelöst.
Fokus Mord hat im ORF eine lange Geschichte. Das Konzept wurde gemeinsam mit Interspot erdacht. Schon 2013 wurde der Pilotfilm gedreht, 2015 entstanden acht Folgen. Aufgrund der speziellen Abschreibungspraxis wird die Hälfte aller Produktionskosten erst bei Ausstrahlung schlagend, was dazu führt, dass in Sparzeiten gerne einmal auf Halde produziert wird. „Man möchte, dass es ausgestrahlt wird, weil man glaubt, dass es funktioniert“, sagt Chris Raiber, der bei sieben von vorerst acht Folgen Regie führte. Fokus Mord bietet Dokutainment nach derzeit gern gebotenem Muster: Erzählt wird die Geschichte eines Verbrechens, das sich in Österreich wirklich zugetragen hat, bei dem die Zuschauer die Ermittler bei ihrer Aufklärungsarbeit begleiten und dabei in 40 Minuten auf Spannungsdramaturgie bauen dürfen.
„Uns war wichtig, dass wir Fälle haben, die Falltüren und Sackgassen haben“, erzählt Raiber. „Wir wollen die Arbeit von Kriminalisten zeigen, sagt der Polizeioberst Michael Mimra.
Echte Verbrechen
Die Reihe folgt dem Trend, Geschichten von „echten Verbrechen“nachzuerzählen. „Zunächst sind es einfach spannende Geschichten, wenn man dann noch weiß, es ist nicht Fiktion, dann erhöht das die Angstlust-Spannung. Bei keiner anderen Art der filmischen Kommunikation wird der Zuschauer so miteinbezogen. Bei einem Mordfall kann man selbst Ermittler sein, selbst Kojak sein, Ratespiele mit der Familie bezogen, miträtseln.“
Im Fall von Paula S. fällt der Report heftig aus. Die Taten des „Sadisten“, werden detailreich geschildert: Wie ein Opfer gefesselt ins Wasser geworfen wird, versucht im Todeskampf, Fesseln an den Händen zu durchbeißen. „So ein Fall kommt zum Glück nur sehr selten vor, und von den Ermittlungen waren wir gefordert“, erzählt Mimra. Die echte Mordstatistik ist weltweit rückläufig. Ös- terreich zählt zwischen 50 und 70 nicht fahrlässiger Tötungsdelikte jährlich. „Serienmordgeschichten sind Psychologien in Reinkultur“, sagt Gerichtspsychiater Reinhard Haller. „Menschliche Verhaltensweisen werden in überspitzter Form dargestellt. Neid, Eifersucht, Depressivität, Kränkungen, Verletzungen, alle diese menschlichen Dinge. Das interessiert die Menschen.“
Genauso die Frage, könnte ich nicht auch selbst Täter sein: „Tiefenpsychologisch ist das ein Spiegel, in den ich gerne schauen möchte“, erklärt Haller, der in Fokus Mord Analysen abgibt: „Die Angstlust-Spannung treibt die Menschen.“Dass die Polizei sich und ihre Arbeit in Fernsehsendungen präsentiert, hat Tradition. Privatsender ATV begleitet regelmäßig Einsatzkräfte, etwa im Wachzimmer Ottakring. „In unserem Rechtssystem sollte der Bürger sehr wohl eine Ahnung haben, wie die Polizei vorgeht“, begründet Mimra die polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit. Mit dem Ergebnis ist er zufrieden. Die Arbeit der Polizisten werde „sachlich, emotional und spannend dargestellt“.
Ratschläge an Zuschauer, wie man sich im Fall eines Überfalls verhalten soll, fehlen. Man erfahre, „wie Täter sich verhalten“, sagt Raiber. „Bei Mordfällen muss die Polizei sehr vorsichtig sein“, sagt Mimra. Ratschläge allgemeiner Natur zu geben, bringe nichts.
Es komme auf die Persönlichkeit des Opfers an und die des Täters. „Das wäre nicht unsere Intention gewesen.“Aber muss der Zuschauer wirklich genau wissen, wie ein Opfer zu Tode gekommen ist? „Berechtigte Frage“, sagt Haller. Die Gefahr, dass sich die Mordrate nach Ansicht solcher Programme häufen könnten, sieht er zwiespältig. „Die Wissenschaft ist sich nicht einig. Die einen sagen, der Zuschauer könnte am Modell lernen: Er sieht etwas und ahmt es nach. Die anderen sagen, genau das Gegenteil ist der Fall: Hier kann er Emotionen hineinlegen, Aggressionen abbauen, und das hat einen präventiven Effekt.“
Die Lust an der Angst sieht Haller jedenfalls hoch im Kurs: „Früher zeigte man die Gerichtsmedizin von außen, dann kamen Gerichtsmedizinerinnen zu Wort, und das Ganze spielte sich am Leichnam, immerhin noch am zugenähten, ab. Das ist schon etwas, wo man in gewisser Weise die Sensationslüsternheit anspricht. Aber da ist fraglich, welchen Effekt hat das? Regt es zur Nachahmung an oder befriedigt es die eigenen sadistischen Anteile, die jeder von uns hat. Da bin ich mir nicht ganz sicher.“