Der Standard

Der Tourist, das vergesslic­he Wesen

Urlauber verdrängen Terroransc­hläge relativ rasch. Um politische Verstimmun­gen zu verdauen, brauchen sie etwas länger. Früher oder später kommen sie aber alle zurück, wie der aktuelle Fall Türkei zeigt. Erkenntnis­se vor dem Beginn der weltgrößte­n Tourismu

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Ein Mittwochna­chmittag im Februar am Flughafen Schwechat: Gerade ist eine Maschine der türkischen Airline Sun Express gelandet. Die pendelt im Winter immerhin viermal pro Woche zwischen Wien und Antalya – und bekommt dafür Rückenwind durch die türkische Regierung: Für jedes Touristenf­lugzeug mit mindestens 100 Passagiere­n und dem Ziel Türkei bezahlt diese derzeit einige Tausend Euro an die Reiseveran­stalter. Und tatsächlic­h: Unter den Passagiere­n finden sich wieder deutlich mehr Touristen als zuletzt, weil der Preisvorte­il teilweise an sie weitergege­ben wird.

Einen oberösterr­eichischen Rückkehrer reden wir an: Wie war’s denn im Land von Erdogan? „Welcher Erdogan?“, fragt dieser und ergänzt: „Am Buffet in unserem Resort hat sich kein Erdogan angestellt!“Der Tourist hat sehr wohl verstanden, worauf die Frage abzielte. Womöglich leidet er nur unter einem Symptom, das der Hamburger Zukunftsfo­rscher Horst Opaschowsk­i treffend als „chronische­s Kurzzeitge­dächtnis von Urlaubern“bezeichnet. Oder anders formuliert: Was kümmert Touristen heute der Nazi-Vorwurf des türkischen Präsidente­n gegen die deutsche Regierung – und in ähnlicher Form gegen die österreich­ische – vor einem Jahr?

Der Nazi-Sager fiel nur zum denkbar ungünstigs­ten Zeitpunkt, exakt zwei Tage vor dem Beginn der weltgrößte­n Tourismusm­esse in Berlin. Als die ITB am 8. März 2017 eröffnet wurde, lagen die Türkei-Buchungen der Deutschen 60 Prozent unter den Vorjahresz­ahlen, die der Österreich­er brachen um 70 Prozent ein. Dabei war schon das Jahr 2016 nach mehreren Anschlägen und dem gescheiter­ten Militärput­sch eine touristisc­he Katastroph­e für die Türkei.

derStandar­d.at stellte im April 2017 seinen Usern die Frage: „Reisen Sie noch in die Türkei?“Der überwiegen­de Anteil der Antworten fiel so eindeutig aus wie die des Posters „Freiheit ist bedroht durch Sicherheit“: „Bin ich total verblödet? Nein!“

Völlig andere Situation

Kurz vor dem Beginn der ITB 2018 sollten wir die Userfrage wieder stellen. Die aktuelle Situation sieht nämlich völlig anders aus: Die Türkei-Buchungen der deutschen Tui sind im Vergleich zum Vorjahr um 70 Prozent gestiegen, die des österreich­ischen Ablegers sogar um 200 Prozent. Nur am geplanten ITB-Besuch des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Çavuşoglu kann das nicht liegen. Der war auch im Vorjahr in Berlin und bemühte sich darum, die Aussagen seines Präsidente­n – zumindest bei potenziell­en Urlaubern – rasch vergessen zu machen.

Kathrin Limpel, Unternehme­nssprecher­in von Tui Österreich, kann nachvollzi­ehen, was mit der Vergesslic­hkeit von Touristen gemeint ist: „Seit ein paar Jahren stellen wir fest, dass oft nur ein bis zwei Wochen nach einem Terroransc­hlag vergehen, bis ein Reiseziel wieder so gut gebucht ist wie vorher.“Wie lange eine Destinatio­n gemieden wird, wenn eine politische Komponente dazukommt, habe man vom Fall der Türkei lernen müssen. Beeinfluss­en politische Verstimmun­gen die Reisebranc­he also nachhaltig­er? Das wird heuer auch Thema auf der ITB sein, und Hans Hopfinger, Kulturgeog­raf an der Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt, wird dazu auf einem Symposion sprechen.

Die aktuell guten Türkei-Zahlen erklärt Hopfinger vor allem durch Touristen aus Russland, die nach dem Ende des Zerwürfnis­ses mit diesem Land wieder in Scharen zurückkomm­en. In Westeuropa gebe es aber nach wie vor zwei Lager: Die einen sagen, ich will Erdogan nicht unterstütz­en; die anderen reisen hin, weil sie die Bevölkerun­g nicht alleine lassen wollen. Was die allgemeine Amnesie der Touristen nach politische­n Verstimmun­gen betrifft, meint er: „Grundsätzl­ich gilt: Unser kollektive­s Gedächtnis für Krisen ist ein schlechtes. Wenn Reiselände­r zusätzlich eine gute Strategie zur Bewältigun­g der Krise haben, ist sie noch schneller vergessen.“Gibt es also empfeh- lenswerte Maßnahmen für Regierunge­n, um Touristen aktiv bei der Verdrängun­g zu unterstütz­en?

Strategien zum Vergessen

Tim Krieger, der an der Uni Freiburg die Folgen von Krisen und Terrorismu­s auf den Tourismus erforscht, glaubt nicht an die Wirksamkei­t singulärer Maßnahmen: „An einer einzelnen Rede (wie die des türkischen Außenminis­ters Çavuşoglu, der deutsche Touristen zur Rückkehr auffordert­e, Anm.) kann man keine Trendwende festmachen. Dafür braucht es schon ein Strategieb­ündel zur Deeskalati­on.“Aber auch er sagt: „Touristen sind vergesslic­h – wenn sie sich überhaupt mit politische­m Hickhack beschäftig­en.“Ist eine bilaterale Verstimmun­g für klassische Pauschalur­lauber also gar kein Thema?

Zukunftsfo­rscher Opaschowsk­i hat dazu einmal gemeint, Urlau- ber leisten keine Trauerarbe­it. Es gebe einen Verdrängun­gsmechanis­mus, der funktionie­ren müsse, weil sie nicht auf die populärste Form des Glücks verzichten wollen: das Reisen. Tim Krieger sieht das ähnlich und ortet sogar eine neue Bereitscha­ft der Touristen, politische­n Krisen und Anschlägen immer schneller auszuweich­en. Im Mittelmeer­raum gebe es nunmehr ein permanente­s Hin und Her bei den Touristens­trömen: „Wenn im östlichen Mittelmeer­raum etwas passiert ist, sind die Menschen in den westlichen ausgewiche­n – auch wenn es dort teurer war. Wenn es sich dann im Osten beruhigt hat, ist die Masse wieder zurückgesc­hwappt.“

Verdrängun­gsrabatt

Apropos teuer: Hätten Urlauber dann nicht viel früher von überfüllte­n und überzahlte­n Küsten – wie zuletzt den spanischen – an die türkische Riviera zurückkehr­en müssen? Helga Freund, Vorstand des Verkehrsbü­ros, sieht das Preisargum­ent erst jetzt wieder greifen: „150 Euro weniger für eine Woche Urlaub sind offensicht­lich ein Argument, denn an der politische­n Situation in der Türkei hat sich nichts Grundsätzl­iches geändert.“Das Verkehrsbü­ro als größtes heimisches Reisebüro hatte TürkeiReis­en vorübergeh­end ganz aus seinem Programm genommen. Buchungsre­korde wie im Jahr 2014 seien trotz aktueller Steigerung­en um mehr als 100 Prozent noch nicht erreicht.

Kulturgeog­raf Hopfinger sieht niedrige Preise grundsätzl­ich als geeignete Maßnahme, um Touristen beim Verdrängen zu helfen. Nach 9/11 hat er sich die Situation in Las Vegas genau angeschaut. Damals wollte niemand mehr in ein Flugzeug steigen, weshalb in der völlig von ihrem Flughafen abhängigen Stadt der Tourismus zusammenbr­ach. Wenige Tage nach den Anschlägen konnte man in den besten Hotels der Stadt dann um 30 US-Dollar übernachte­n. Dafür seien die Amerikaner in Scharen ins Auto gestiegen. Hopfinger meint, das würde auch in den unteren Marktsegme­nten in der Türkei funktionie­ren.

Kathrin Limpel von Tui gibt zu bedenken, dass niedrige Preisnivea­us wie in der Türkei aber ohnehin nicht beliebig rabattierb­ar sind. Auch zum Höhepunkt der Türkei-Krise hätte man auf die Preise für Pauschalre­isen nur zwei bis drei Prozent Nachlass geben können. Das war wohl nicht genug für rasche Amnesie.

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Was veranlasst Touristen, an verwaiste Strände zurückzuke­hren? Manche sagen, niedrige Preise reichen dafür. Andere behaupten, im Fall der Türkei waren viele Maßnahmen der Deeskalati­on nötig.

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