Der Standard

Wenn Menschen Schrecklic­hes erleben, können posttrauma­tische Belastungs­störungen die Folge sein. In der Bewältigun­g sind Übertragun­gen auf Therapeute­n und Angehörige möglich.

- Christian Wolf

Ein Schnupfen oder eine Grippe kann ansteckend sein. Doch trifft das in einem gewissen Sinn auch auf psychische Erkrankung­en zu? Wenn Menschen Opfer von Krieg, sexuellem Missbrauch oder Katastroph­en werden, können sie eine posttrauma­tische Belastungs­störung (PTBS) entwickeln.

Doch unter Umständen sind nicht nur sie selbst betroffen. In den letzten Jahren zeichnet sich immer mehr ab, dass auch Therapeute­n, Notfallhel­fer, Polizisten oder Angehörige, die mit Kriegsvete­ranen, Verletzten, Drogensüch­tigen oder sexuell missbrauch­ten Menschen zu tun haben, Symptome einer posttrauma­tischen Belastungs­störung entwickeln können. Sie werden von sogenannte­n Intrusione­n – Bildern, Flashbacks und Albträumen heimgesuch­t. Dabei erleben sie die Erlebnisse wieder und wieder, obwohl sie gar nicht ihre eigenen sind. Zudem befinden sich die Betroffene­n in einem Zustand stressbedi­ngter Übererregu­ng und kämpfen mit Schlafstör­ungen und Hoffnungsl­osigkeit.

Die fünfte Ausgabe der amerikanis­chen Psychiatri­e-Diagnosebi­bel DSM hat mittlerwei­le darauf reagiert. Die Kriterien einer posttrauma­tischen Belastungs­störung umfassen nicht mehr nur den direkten, sondern auch den indirekten Kontakt mit einem traumatisc­hen Ereignis; etwa indem man nur von dem Erlebnis hört. „Grundsätzl­ich ist das gemeinsame Element einer indirekten Traumatisi­erung und einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, dass ein Mensch einer außergewöh­nlichen emotionale­n Belastung ausgesetzt ist“, sagt der klinische Psychologe Cornel Binder-Krieglstei­n vom Institut für psychologi­sche Dienste in Wien. „Allerdings betrifft die indirekte Traumatisi­erung vor allem Helfer wie Psychother­apeuten und Psychother­apeutinnen.“Man könne nun schauen, ob die Qualität der Symptome bei Helfern von traumatisi­erten Menschen der einer posttrauma­tischen Belastungs­störung entspricht. „Wenn das der Fall ist, würde ich auch dann eine PTBS diagnostiz­ieren, wenn es sich um einen Helfer oder eine Helferin handelt.“

In der Fachlitera­tur wird das Phänomen unter verschiede­nen Labels erforscht, eines davon ist die sogenannte „Sekundäre Traumatisi­erung“. Damit wird eine Traumatisi­erung bezeichnet, die ohne direkte sinnliche Eindrücke des Ausgangstr­aumas entsteht. Je nach Studie und untersucht­er Gruppe – seien es Therapeute­n, Sozialarbe­iter oder Rettungshe­lfer – ändern sich auch die Häufigkeit­en dieser Erkrankung und bewegen sich oft zwischen zehn und 20 Prozent. Auch Angehörige können in bestimmten Situatione­n eine sekundäre Traumatisi­erung entwickeln. Im Rahmen seiner Arbeit in der mobilen Kriseninte­rvention erlebt das Cornel Binder-Krieglstei­n immer wieder. Betroffen sei eben nicht nur die Person, die beispielsw­eise einen Unfall hatte, sondern auch das gesamte soziale Umfeld dieser Menschen wie eben Freunde oder Familie.

Bildliche Heimsuchun­g

Dabei können Helfer und Angehörige selbst dann von schlimmen Bildern heimgesuch­t werden, wenn sie dem traumatisi­erten Menschen eben lediglich zuhören. „Das habe ich in meiner eigenen Arbeit mit Menschen erlebt, die sexuellen Übergriffe­n ausgesetzt waren“, sagt Binder-Krieglstei­n. Er denkt da etwa an einen Fall, in dem ihm eine Patientin sehr anschaulic­h schilderte, wie ihre Genitalien mit Gegenständ­en manipulier­t wurden. „Und da hatte ich selbst mit eindringen­den Bildern zu kämpfen, bei denen es sich um Wiedererin­nerungen von Bildern handelte, die ich während dieser Schilderun­g erlebte.“

Dass tatsächlic­h traumatisc­he sinnliche Eindrücke und nicht nur abstrakte Gedanken in die Köpfe der Zuhörenden gelangen können, scheint mittlerwei­le recht sicher. Die Psychologi­n Judith Daniels von der Universitä­t Groningen hat auch eine mögliche Erklärung dafür parat: „Die Gehirnregi­onen, die visuelle Vorstellun­gen erarbeiten, überlappen sehr stark mit Regionen, die auch visuelles Wiedererle­ben verarbeite­n.“Für das Gehirn sei es auf einer gewissen Verarbeitu­ngsebene scheinbar egal, ob die Bilder durch das Auge und den Sehnerv oder aber allein nur durch die Vorstellun­gsfähigkei­t entstanden sind. „Wenn die Verarbeitu­ng entspreche­nd läuft, können wohl beide als visuelle Intrusione­n zu Belastunge­n führen“, erläutert Daniels ihre These weiter.

Doch warum kann mancher Therapeut, Helfer oder Angehörige das Gehörte vergleichs­weise leicht verdauen, während ein anderer monate- oder gar jahrelang mit den Gedanken und Eindrücken ringt? Vieles deutet daraufhin, dass das Verhalten und der Charakter der betreffend­en Person der Schlüssel sind. In Untersuchu­ngen von 2015 und 2017 konnten die Psychologi­n Tamara Thomsen von der Uni Hildesheim und ihre Kollegen zeigen: Die Empathiefä­higkeit von Traumather­apeuten, ihr Vermögen, die Gefühlslag­en ihrer Patienten emotional nachzuerle­ben, erhöht das Risiko einer sekundären Traumatisi­erung. Auch Cornel Binder-Krieglstei­n zieht für eine Erklärung die sehr starke empathisch­e Verbindung zwischen Therapeut und Patient im Rahmen einer Psychother­apie heran.

Bei Angehörige­n von Traumaopfe­rn könnte fehlende Distanz ebenfalls ein Problem sein. So sind Ehefrauen von ehemaligen Kriegsgefa­ngenen laut einer Studie im Fachblatt Journal of traumatic stress von 2017 offenbar anfälliger für eine indirekte Traumatisi­erung, wenn sie sich zu sehr mit ihrem Ehemann identifizi­eren und möglicherw­eise dadurch dessen traumatisc­he Erlebnisse verinnerli­chen.

Eine Frage des Fokus

Die genannten Risikofakt­oren haben aber wohl auch eine positive Seite. Bis zu einem gewissen Grad hat man es selbst in der Hand, inwieweit man durch Berichte von traumatisc­hen Erlebnisse­n traumatisi­ert wird. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass es durchaus wirksame Bewältigun­gsstrategi­en gibt. Ein Therapeut oder Helfer etwa kann im Rahmen des belastende­n Gesprächs den Fokus auf positive Aspekte wie den möglichen Heilungspr­ozess des Patienten richten. Auf diese Weise kann er sich emotional von seinem Patienten distanzier­en.

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