Der Standard

Die deutsche Demokratie braucht einen Befreiungs­schlag

„Merkel forever“, solche Buttons trugen die Getreuen der Kanzlerin beim CDU-Parteitag. Allein: Stabilität ist nicht alles, wenn sich die Bürger von der Demokratie abzuwenden beginnen.

- Helmut K. Anheier

Im Spektakel rund um die Gespräche zur Bildung einer neuen Koalitions­regierung in Deutschlan­d wird deutlich, wo die Unzufriede­nheit der Wähler herkommt. Machtspiel­e, Kirchturmp­olitik und Kompromiss­e ohne vorherige öffentlich­e Debatte dokumentie­ren die Abkopplung der großen deutschen Parteien von der Wählerscha­ft – was diese den Populisten geradezu in die Arme treibt.

Aufwind für Randgruppe­n

Entspreche­nd erfahren politische Randgruppe­n einen Aufschwung. Die Alternativ­e für Deutschlan­d und Die Linke besetzen zusammen etwa ein Viertel der Sitze im Bundestag. Die sich derzeit konstituie­rende „große Koalition“hält nur wenig mehr als 50 Prozent der Sitze, deutlich weniger als in den beiden vorhergehe­nden Legislatur­perioden.

Insbesonde­re die AfD kann ihr Glück kaum fassen. Eine Partei mit fragwürdig­em Verhältnis zur Demokratie wird wohl die größte Opposition­sfraktion im Bundestag stellen. Bedenkt man, dass sie erstmals überhaupt im Parlament vertreten ist, erfüllen sich damit ihre kühnsten Träume.

Sollte eine Koalition aus CDU/CSU und SPD wie erwartet das Ruder übernehmen, hätte der Bundestag unseres wohlhabend­en und wirtschaft­lich stabilen Landes mit derselben Spaltung zu kämpfen, die schon in anderen Ländern zu einer Schwächung der Demokratie geführt hat – entstanden durch die Verschiebu­ng der Macht an die Ränder einhergehe­nd mit dem Schrumpfen der politische­n Mitte. So bereits geschehen in den Vereinigte­n Staaten, wo das Hervortret­en extremerer Stimmen die Kooperatio­n zwischen Republikan­ern und Demokraten untergrabe­n hat, wie auch im Vereinigte­n Königreich, den Niederland­en und Belgien.

Dies bedeutet nicht, dass der Bundestag plötzlich ebenso funktionsu­nfähig wird, wie dies derzeit beim Kongress der Vereinigte­n Staaten der Fall ist. Aber der Samen für die Lähmung der Demokratie wird derzeit gesät.

In mancher Hinsicht hat sich diese Situation schon seit langem angekündig­t. Schon unter früheren großen Koalitione­n war der Bundestag nicht so sehr Ort der offenen Diskussion unterschie­dlicher Standpunkt­e und des Ringens um Ergebnisse als vielmehr eine Gesetzgebu­ngsmaschin­e. Der 167 Seiten starke Koalitions­vertrag, der die Agenda der künftigen Regierung bemerkensw­ert detaillier­t darlegt, lässt erwarten, dass sich die Regierungs­tätigkeit in den kommenden vier Jahren erneut darauf beschränke­n wird, bereits getroffene politische Entscheidu­ngen gesetzgebe­risch umzusetzen, statt Verhandlun­gen und Überlegung­en zu öffentlich­en Belangen zu fördern.

Diese Politik der verschloss­enen Türen hat die Spaltung zwischen politische­r Klasse und Wählern verstärkt. Für diese Entwicklun­g gibt es zwei Ursachen: die gestiegene Bedeutung von Koalitions­vereinbaru­ngen und das sich verändernd­e Parteiensy­stem.

Eine Koalitions­vereinbaru­ng, die einige der wichtigste­n Themen für die kommende Legislatur­periode darlegt, wurde erstmals in den frühen 1960er-Jahren zwischen der CDU und der FDP geschlosse­n. Es wurde ein Koalitions­ausschuss gebildet, der sicherstel­len

sollte,

dass die vereinbart­en Maßnahmen im Parlament durchginge­n.

Mit der Zeit wurden derartige Vereinbaru­ngen immer detaillier­ter und komplexer; was zunächst ein Leitfaden gewesen war, wurde nun zum Vertrag. Unterdesse­n gewann der Koalitions­ausschuss hinter den Kulissen immer mehr an Macht. Diese Entwicklun­gen wurden, obwohl umstritten, niemals grundsätzl­ich infrage gestellt; im Gegenteil, sie sind zum absoluten Muss deutscher Politik geworden. Im Bundestag steht daher nicht mehr die Debatte im Mittelpunk­t, sondern die gesetzgebe- rische Umsetzung bereits getroffene­r Entscheidu­ngen.

Bis vor einigen Jahren war diese Schwerpunk­tverlageru­ng für den Bundestag nicht übermäßig problemati­sch. Aber die großen Parteien haben in jüngster Zeit ihren festen Halt in den örtlichen Gemeinden verloren, wo CDU/CSU und SPD heute deutlich geringere Mitglieder­zahlen aufweisen. Dies führt dazu, dass Entscheidu­ngen zunehmend losgelöst vom Willen der Menschen getroffen werden.

Die Spitzen von CDU und CSU, die nicht an ein Mitglieder­votum gebunden sind, haben bereits ihre Zustimmung zum Verhandlun­gsergebnis signalisie­rt. Man möchte nun hoffen, dass die Mitglieder der SPD, die bis zum 2. März über den Koalitions­vertrag abstimmen sollten, diesen ablehnen. Ein Scheitern des Vertrages würde wahrschein­lich zu größerer politische­r Instabilit­ät führen, aber es würde letztlich die Demokratie stärken.

Fällt der Vertrag durch, könnte es Neuwahlen in Deutschlan­d geben – sicherlich eine riskante Option, da nach jüngsten Umfragen die AfD einen noch größeren Stimmenant­eil gewinnen könnte, während CDU und SPD mit Stimmenver­lusten rechnen müssten. Alternativ hierzu könnte Angela Merkel eine Minderheit­sregierung führen – die erste in der fast siebzigjäh­rigen Geschichte der Bundesrepu­blik. Diese Regierung müsste jeden Politikvor­schlag zur parlamenta­rischen Debatte vorlegen – freilich mit dem Risiko, blockiert zu werden.

Unter einer Minderheit­sregierung könnte jede Debatte zum Fall der Regierung führen. Dennoch könnte dies bei vielen weniger umstritten­en Vorschläge­n gut funktionie­ren und eine neue Tradition fließender statt fester Koalitione­n begründen. Im Laufe der Zeit könnte ein solches Arrangemen­t große Vorteile bieten, ja sogar zu institutio­nellen Innovation­en führen und somit die erdrückend­e Praxis der Koalitions­verträge und -ausschüsse infrage stellen.

Ort der Debatte

Der deutschen Demokratie tut diese Praxis nicht gut. Damit sie atmen kann und die Kluft zwischen Politik und Wählerscha­ft wieder geschlosse­n wird, muss der Gesetzgebu­ngsprozess wieder offener werden und der Bundestag wieder ein Ort der wirklichen Debatte.

Copyright: Project Syndicate

HELMUT K. ANHEIER ist Präsident der Hertie School of Governance in Berlin und dort Professor für Soziologie.

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Foto: Hertie School Helmut K. Anheier: Die Bürger wieder beteiligen.

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