Zur Kulturgeschichte des Schachspiels gehören nicht nur die Spieler, sondern auch die Kiebitze. Sie sind unentbehrlich. Und manchmal höchst einfallsreich.
Passadoni erschien in den 70er-Jahren täglich gegen fünf im Café Museum, bestellte Tee und nahm nach einem Blick in die Zeitung sein Geschäft auf, egal wer gerade spielte. Passadoni war ein obsessiver Kiebitz, ein treuer Schulterblicker, das heißt einer, der das Geschehen aus der Perspektive eines einzelnen, von ihm erwählten Spielers betrachtet und diese Position einen Abend lang nicht verändert.
Nie hat Passadoni in all den Jahren ein einziges Mal selbst gespielt. In dieser ludischen Enthaltsamkeit ähnelte er der Figur des Arnold in Joseph Roths 1928 erschienenem Roman Zipper und sein Vater. Arnold „spielte nicht, aber er sah gerne zu. Er war mit der Zeit manchen Spielern ein unentbehrlicher Kiebitz geworden. Man erholte sich einigermaßen von den Aufregungen des Spiels, wenn man Zipper ansah. Die ständige Schwermut seines Angesichts, sein genauer Blick schmeichelte den Spielern ... Als er länger als eine Woche ausblieb, wurden selbst die Spieler unruhig. Arnolds tragische Schweigsamkeit fehlte ihnen. Für wen spielten sie noch? Jedes Mal, wenn ich an einem Tisch vorbeiging, hielt mich einer am Rock fest und fragte: ‚Wo bleibt Zipper so lange?‘“
Kiebitze wie Passadoni oder Zipper bezeugen das flüchtige Spiel, ihre Präsenz dient der Selbstvergewisse- Kiebitze: Zeugen des flüchtigen Spiels mit dem lästigen Hang zur Einmischung, mitunter allerdings mit brillanten Ideen.
rung der Spielenden. Eine andere, allerdings vielbeklagte Eigenschaft des Kiebitzes ist sein Hang zur Einmischung. Die Besserwisserei unterscheidet ihn vom Voyeur, der unerkannt ganz für sich bleibt, ebenso wie vom Fan, der ganz Partei ist. Zumeist sind die Vorschläge des Kiebitzes wenig ergiebig, doch manchmal – zugegeben selten – sind seine Kommentare brillant. Hier drei der seltenen Beispiele für genial gekiebitzte Züge.
Crotto – Lazarević Rio de Janeiro 1979 Beim Interzonenturnier der Frauen geschah
wonach einander Rachel Crotto und Milunka Lazarević die Hände reichten. Gertrude Wagner, die österreichische Hauptschiedsrichterin, trug „Re-
mis“als Resultat ein, wogegen beide Spielerinnen protestierten. „Ich habe gewonnen, sie steht doch undeckbar auf Matt!“, sagte Lazarević stolz, was ihre Gegnerin bestätigte. Kopfschüttelnd trug Wagner nach mehrmaliger Nachfrage das Resultat ein, um dann die verblüfften Spielerinnen darauf hinzuweisen, dass die Partie in dieser Stellung durch folgenden alten Trick remis ist: Bei der österreichischen Seniorenmeisterschaft im malerischen Ramsau hatte der Wiener Herbert Nehonsky mit Schwarz eine vielversprechende Stellung aufge-
baut und entschloss sich nach langem Überlegen zu
nach
wurde die Partie nach zehn Zügen remis. Ein Wanderer, der zufällig hereingeschneit und die Stellung interessiert verfolgt hatte, meinte danach: „Hätten S’ doch den Läufer geopfert, da wär es bald matt geworden“, und verließ den Ort des Geschehens. Lange analysierten die irritierten Meister und mussten schließlich einsehen, dass der Unbekannte eine geradezu diabolisch tiefe Einsicht in die Stellung gehabt haben musste: Verweigert Weiß mit 27.Kg1, folgt forciert 27… Dh4! (Drohung Df2 matt) und matt in spätestens sechs Zügen: 28.Sg3 (oder 28.Kxg2 Df2+ 29.Kh1 Sg3+ nebst matt) 28… Sxg3 29.Txe3 Dxh2+ 30.Kf2 Lh3+ 31.Ke1 Txe3+ 32.Le2 Txe2+ 33.Dxe2 Dxe2 matt. Jetzt viel stärker, mit Schachgebot. Oder 28.Kh1 Txh2+! 29.Kxh2 Dh4+ 30.Kg1 Df2+ 31.Kh1 Dg2 matt. Schnell 30.Kh1 weil geht Txh3 29.h3 Df2+ matt. Bei der Mannschaftseuropameisterschaft in Reykjavík agierte Judit Polgar als Kapitän des ungarischen Teams. Sie schildert eindrücklich, welche Qualen es ihr bereitete, der folgenden Partie zusehen zu müssen, ohne eingreifen zu können. Ferenc Berkes zog und musste nach
über hundert Züge lang ums Remis kämpfen. Die Polgar hatte jedoch schon nach kurzer Zeit eine geniale Kombination erspäht, die dem Schwarzen den Gewinn gesichert hätte:
Der König ist das Ziel! Wenn 34.Kh3, so 34… Lc8+ 35.g4 Sh5! 36.fxe4 Tg1! 37.Tg2 Sf4+ 38.Kg3 Txg2 mit gewonnenem Endspiel.
Matt wird sowohl 35.Kg4 Tb1!! 36.Dc2 Tb3 37.Td6 Tc3 38.Db2 Lc8+ 39.Kh4 g5+ 40.Kh5 Sxd6 41.Db1+ e4 nebst g6 als auch 35.Kh3 Tc3+ 36.g3 Sg5+ 37.Kh4 Lc8!! 38.Dxc3 Sf3+ 39.Dxf3 g5+ 40.Kh5 g6. Nicht 36.Dxb1 Sxd2+.