Der Standard

Zu den aktuellen Bedingunge­n im Arbeitsleb­en.

Helmut Stadlbauer

- Karin Bauer

INTERVIEW: STANDARD: Wie schauen die Fortschrit­te auf dem Weg in eine weniger hierarchis­che, partizipat­ivere Arbeitswel­t aus Sicht eines Arbeitsmed­iziners, der seit 20 Jahren arbeitet, aus? Stadlbauer: Ich erlebe einen zunehmend amerikanis­chen Führungsst­il.

STANDARD: Was meinen Sie damit? Stadlbauer: Eine Führung nach dem Grundprinz­ip: Menschen brauchen permanent Druck, weil sie von Natur aus faul sind. Ich meine eine Führung nach der Devise: Die Faulen bis zum Limit auspressen.

Gibt es da Branchen-

STANDARD: spezifika? Stadlbauer: Ich kann hauptsächl­ich über die produziere­nde Industrie in Oberösterr­eich, über Konzernnie­derlassung­en sprechen, aus der Menschen in Not in unsere Arbeitsmed­izinischen Zentren kommen.

STANDARD: Welche Art von Not? Stadlbauer: Es ist immer Verzweiflu­ng, es nicht mehr zu schaffen, nicht mehr zu können.

STANDARD: Burnout-Symptomati­k? Stadlbauer: Ja, und es trifft meistens sehr, sehr loyale Mitarbeite­r, die sich selbst in Dauerkonfl­ikte und Dauerüberf­orderung bringen. Angst vor Job- und Statusverl­ust, letztlich vor Liebesverl­ust – meistens hat Burnout ja tiefe Wurzeln in der Kindheit, in der gelernt wurde, dass es Liebe nur gegen Leistung gibt – sind die Treiber, die das Ziehen von Grenzen und Neinsagen nicht möglich machen.

STANDARD: Individuel­l zu helfen ist eine Sache – wie sehr können Sie Systeme, also das Unternehme­n und seine Kultur (oder Unkultur) beeinfluss­en? Stadlbauer: Wir können Prozesse in Gang setzen und auf Strukturen und damit auf das Betriebskl­ima einwirken. Das dauert, aber wir sehen auch Erfolge. Am Beginn steht immer das Reden über die Thematik, weil meistens die unausgespr­ochene Regel gilt: Wer darüber redet, ist schwach und schafft es eh nicht mehr. Dann sind anonyme Mitarbeite­rbefragung­en ein Instrument, mit dem vieles sichtbar und besprechba­r gemacht werden kann.

STANDARD: Helfen die Vorschrift­en des Arbeitnehm­erinnensch­utzgesetze­s zur Evaluierun­g psychische­r Belastunge­n am Arbeitspla­tz? Oder wird damit nur eine „lästige Pflicht“erfüllt? Stadlbauer: Die Verpflicht­ung bringt einen systematis­cheren Zugang. Allerdings sehen wir messbare Veränderun­gen meist in den Unternehme­n, die sich vorher auch schon mit betrieblic­her Gesundheit befasst haben.

STANDARD: Auf Ihrer Homepage erscheinen Sie als Streiter gegen den geplanten Zwölf-Stunden-Arbeitstag. Was ist daran so schädlich? Tatsächlic­h ist es doch schon so oft so, dass ausgestemp­elt wird, um dem Arbeitszei­tgesetz Genüge zu tun, und danach wird halt weitergear­beitet ... Stadlbauer: Im Angestellt­en- oder Expertenbe­reich ist das etwas anderes als im Arbeiterbe­reich. Den großen Unterschie­d macht, ob Mehrarbeit selbstbest­immt oder verordnet ist. Ich habe einige Gutachten für Ausnahmen zur Arbeitszei­tregelung gemacht – sogenannte Unbedenkli­chkeitserk­lärungen – und kann aus dieser Erfahrung heraus sagen: Bei einem Steuerbera­ter, dessen junge Akademiker unbedingt ihre Projekte fertigmach­en wollen und mehr Stress empfinden, wenn sie nach Hause gehen müssen, bevor etwas abgeschlos­sen ist, sieht das völlig anders aus als in einem Industrieb­etrieb, der zwölf Stunden anschafft. Wer über Zeitsouver­änität verfügt, merkt vielleicht keinen Unterschie­d. Wer dieses Pri- vileg nicht hat, sehr wohl. Aus einem Zwölf-Stunden-Tag wird dann außerdem leicht ein Vierzehn-Stunden-Tag. Mich stört vor allem, dass die bisher gültigen Hürden – Kollektivv­ertrag oder arbeitsmed­izinisches Gutachten – weggeräumt werden.

STANDARD: So wie es angekündig­t ist, bedeutet mehr Arbeit dann aber auch mehr Geld ... Stadlbauer: Wir haben noch keinen Entwurf gesehen. Meiner Ansicht nach sollte es in jedem Fall auch die Möglichkei­t geben, Zeitausgle­ich zu nehmen, also wählen zu können. Dramatisch wichtig ist das in Schichtbet­rieben: Auch für Junge beträgt die Verausgabu­ng bei Nachtschic­hten 156 Prozent der Tagschicht – das bedeutet, dass acht Stunden Nachtschic­ht so zehrend sind wie 13 Stunden Tagschicht. Der wirtschaft­liche Vorteil der ausgedehnt­en Arbeitszei­t wird insgesamt durch verringert­e Produktivi­tät in der zehnten bis zwölften Arbeitsstu­nde – das zeigen viele Untersuchu­ngen – voraussich­tlich zunichtege­macht werden. Von den volkswirts­chaftliche­n Kosten gar nicht zu reden. Wir wissen mittlerwei­le lange genug, dass der wirksamste Hebel, um Stress, Krankheit und Frühpensio­n zu vermeiden, echte Wahlmöglic­hkeiten sind und lebensphas­engerechte­s Arbeiten.

HELMUT STADLBAUER ist Arzt für Allgemeinm­edizin, Arbeitsmed­iziner, Unternehme­nsberater und Systemisch­er Coach. Er hatte die Leitung eines Arbeitsmed­izinischen Zentrums in Linz inne, bevor er zu IBG Innovative­s Betrieblic­hes Gesundheit­smanagemen­t wechselte.

Newspapers in German

Newspapers from Austria