Der Standard

„Viele Kinder lernen nur, um durchzukom­men“

Um lebenslang lernen zu wollen, braucht es in der Schule Erfolgserl­ebnisse. Doch bereits in der Volksschul­e werde ein Druck aufgebaut, der die Lust daran hemmt, sagt Christiane Spiel, Uni Wien.

- Gudrun Ostermann

INTERVIEW: STANDARD: In Ihrem Buch „Schule – Lernen fürs Leben?“schreiben Sie, dass die Lust an der Schule im Laufe der Schulzeit ständig abnimmt. Woran liegt das? Was soll ein Bildungssy­stem leisten? Spiel: Grundsätzl­ich kommen alle Kinder lern- und wissbegier­ig in die Schule. Vor dem Übertritt in die Sekundarst­ufe wird aber häufig bereits ein Druck aufgebaut, der dazu führt, dass es nur noch um Noten geht und nicht mehr darum, was das Kind kann. Die Frage „Was hast du Neues gelernt?“wird ersetzt durch: „Welche Noten hast du bekommen?“Eltern wollen natürlich das Beste für ihr Kind, das verstärkt diesen Druck und hat den Nebeneffek­t, dass bei Schülern, denen das Lernen nicht so leicht fällt, die Freude daran abnimmt.

STANDARD: Das betrifft aber hauptsächl­ich Kinder, deren Eltern eine höhere Bildung haben ... Spiel: Wir brauchen für alle Menschen eine möglichst gute Bildung. Und wir brauchen eine möglichst große Vielfalt, denn nur so können unsere Gesellscha­ft und unsere Wirtschaft funktionie­ren. Leider ist aber die Botschaft die, dass eine akademisch­e Bildung das Beste und auch mehr wert sei. Das ist eine fatale Botschaft, denn wir brauchen auch gut ausgebilde­te Fachkräfte. Lehrberufe, die zum Teil auch sehr anspruchsv­oll sind, sind in der Gesellscha­ft aber nicht so angesehen. Das ist ein Problem.

STANDARD: Der Druck durch Noten wird in der weiteren Schullaufb­ahn nochmals verstärkt ... Spiel: Der Übertritt in AHS oder NMS ist ziemlich radikal. Die Schüler kommen drauf, dass sie vieles nicht so gut können, dass es Mitschüler gibt, die den Stoff besser beherrsche­n. Das ist ganz natürlich, kann aber dazu führen, dass sie dann überzeugt sind, dass sie beispielsw­eise zu dumm für Mathematik sind. Wenn jemand diese Ansicht hat, glaubt er auch nicht, dass er durch Lernen besser wird. Die Lernmotiva­tion lässt nach, schlechte Noten bestätigen diese Einschätzu­ng.

STANDARD: In Mathematik schlecht zu sein ist oft auch cool ... Spiel: Ja, leider. Wenn ich Mathematik oder auch die Schule generell negativ besetze, dann habe ich keinen Imageverlu­st. Gerade in der Pubertät ist es besonders wichtig, unter Gleichaltr­igen angesehen zu sein. Die Schule abzulehnen bringt positive Rückmeldun- gen. Dass das für den weiteren Bildungswe­g ein Problem wird, ist nebensächl­ich. Der aktuelle Status bei den Peers ist viel wichtiger.

STANDARD: Der Anspruch des lebenslang­en Lernens wird für diese Schüler aber zur Bedrohung. Wie kann das aufgebroch­en werden? Spiel: Viele Kinder lernen nur noch mit dem Ziel, durchzukom­men, und der Gewissheit, nach der Schule das nie wieder zu brauchen. Das ist verrückt. Denn eigentlich sollte man lernen, um etwas zu können und um es später auch anzuwenden. Der Unterricht könnte noch viel stärker an den Lebensreal­itäten der Kinder anknüpfen. Und Kindern brauchen Erfolge. Wenn ein Kind in Mathematik schwach ist, sollte geschaut werden, in welchen anderen Bereichen – sei es Sport oder Computersp­ielen – es gut ist. Denn auch hier geht es ohne Übung und Anstrengun­g nicht. Auch solche Leistungen sollten anerkannt werden, damit das Kind erlebt, dass man es schaffen kann, wenn man sich anstrengt, und das Selbstvert­rauen in das schulische Lernen überträgt.

STANDARD: Wenn dann die Schule abgeschlos­sen ist: Nach welchen Kriterien soll man sich bei der Berufsbild­ung orientiere­n? Spiel: Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass man auch darüber nachdenkt, wie man sich seine Berufstäti­gkeit vorstellt. Denn für viele Fächer gibt es keinen klassische­n Arbeitsmar­kt. Praktika sind gute Möglichkei­ten, um herauszufi­nden, welcher Arbeitssti­l einem liegt – im Team oder lieber allein, im Kontakt mit Menschen. So gesehen wären Praktika auch an den AHS gut.

STANDARD: Warum haben Sie sich für ein Psychologi­estudium entschiede­n? Spiel: Ich habe es ohne bestimmte Intention neben meiner Berufstäti­gkeit studiert. Psychologi­e war mein zweites Studium. Davor studierte ich Mathematik und Geschichte fürs Lehramt. Meinem Erststudiu­m habe ich auch meine Assistente­nstelle an der Uni zu verdanken. Meine Mathematik­kenntnisse sind dem Professor für Statistik und Methoden aufgefalle­n. An meinem Werdegang war ganz viel Zufall. Wichtig ist jedoch, den Zufall zu ergreifen.

CHRISTIANE SPIEL (1951) ist Professori­n für Bildungsps­ychologie und Evaluation an der Uni Wien.

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Um die Lust am Lernen aufrechtzu­erhalten, könnte der Unterricht noch stärker an die Lebensreal­itäten der Schüler angeknüpft sein, sagt Bildungsps­ychologin Christiane Spiel.

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