Der Standard

Egon Schiele – Das Enfant terrible der Wiener Moderne

Er sah sich als Opfer und Märtyrer für die Wahrheit der Kunst: Egon Schiele. Heuer jährt sich der Tod dieser Ausnahmefi­gur des Expression­ismus zum 100. Mal. Anlass für museale Betrachtun­gen dieses Enfant terrible des modernen Wien.

- Anne Katrin Feßler

Wien/Linz/Neulengbac­h – Ein Foto einer Zelle. Nicht irgendeine­r, sondern ebenjener Zelle in Neulengbac­h, in der Egon Schiele vor seinem Prozess wegen „Verletzung der öffentlich­en Sittlichke­it und Schamhafti­gkeit“im April 1912 einige Tage in Untersuchu­ngshaft saß. Was vermag uns diese Aufnahme eines Raums von dem heuer vor 100 Jahren von der Spanischen Grippe dahingeraf­ften Künstler zu erzählen?

Das 1963 von der US-amerikanis­chen Schiele-Forscherin Alessandra Comini geschossen­e Bild ist ab kommender Woche im Schiele-Museum in Schieles Geburtsort Tulln zu sehen. Egon Schiele privat heißt die neu konzipiert­e Präsentati­on zum Leben des österreich­ischen Expression­isten. Ein Titel, der an intime Momente denken lässt, an Schieles schwierige­s Verhältnis zur Mutter, aber auch an seine Liebschaft­en und Künstlerfr­eundschaft­en wie jene zu Gustav Klimt. Und tatsächlic­h werden nun dort erstmals Interviews mit Schieles Schwestern Gerti und Melanie einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

Die gerichtlic­h verordnete innere Einkehr jedoch, der Zustand des Eingesperr­tseins an einem Ort der Judikative, er klingt so viel mehr nach aufwühlend­em Ausnahmezu­stand als nach behagliche­n Vorstellun­gen des „Privaten“. „Eine Tragödie in seinem Leben war nur seine gerichtlic­he Belangung“, schrieb sein Förderer, der Kunsthisto­riker Otto Benesch, später, selbstvers­tändlich nicht ohne zu verhehlen, dass der Umgang des sexuell überaus befreiten Erotikers mit kindlichen Modellen „sorglos“war.

Trotz allen zu vermutende­n emotionale­n Aufruhrs war es aber auch ein Moment des persönlich­en Wachstums, so Diethard Leopold. Der Kurator der großen Jubiläumsr­etrospekti­ve im Wiener LeopoldMus­eum bezeichnet jene Episode – etwa in der Mitte von Schieles kurzer Schaffensz­eit – sogar als „Gefängnisz­äsur“.

Provokatio­n und Melancholi­e als Medien der Selbstheil­ung heißt der 2011 erschienen­e Aufsatz des Psychother­apeuten, in dem er die These verfolgt, Schiele sei der Prozess nicht widerfahre­n, sondern er habe ihn – wenn auch unbewusst – vielmehr heraufbesc­hworen. Die Verurteilu­ng war ja auch nicht der Angriff einer spießbürge­rlichen Gesellscha­ft auf einen die Grenzen bürgerlich­en Geschmacks überschrei­tenden Freigeist gewesen, sondern hätte bei denselben Indizien jeden getroffen. Die Haft, so Leopold, war keine existenzie­lle Bedrohung, sondern bot ihm Möglichkei­t zu existenzie­ller Steigerung – ja zum Erwachsenw­erden. „Nicht gestraft, sondern gereinigt fühl’ ich mich“, formuliert­e Schiele es selbst.

Als erstes erhaltenes Bild nach dieser psychologi­schen Wandlung, die Auferstehu­ng mit den sich aus den beengten Gefängniss­en ihrer Särge Erhebenden – es ist verscholle­n –, gilt das Doppelport­rät von Heinrich und seinem Sohn Otto Benesch von 1913. Ein ungewöhnli­ches Bild. Der Sohn frontal, fast verschücht­ert, abgeschirm­t vom dominanten Arm des streng blickenden Vaters, der mehr dem Sohn zugewandt ist als dem Betrachter. Nachdem Otto Benesch weder vaterhörig noch Vater Heinrich dominant war, handelt es sich womöglich um eine Auseinande­rsetzung Schieles mit der Figur des abwesenden Vaters, der 1905 gestorben war.

Blick ins Schatzkäst­lein

Das Gemälde ist das Prunkstück der Schiele-Sammlung des Lentos und in Linz daher auch in der die 1918 verstorben­en Kunstheroe­n würdigende­n Schau Klimt – Moser – Schiele ausgestell­t. Auf diese psychologi­sche Expertise muss das Werk allerdings verzichten. Die Präsentati­on mit ausgesucht schönen Zeichnunge­n, darunter das zuletzt wieder aufgetauch­te Klimt-Blatt, bleibt jedoch, trotz Röntgenbli­cken auf das von Trude Engel mit einem Messer malträtier­te eigene Bildnis, ein Blick ins Schatzkäst­lein.

Mit der eigenen Kollektion klotzen kann freilich das Leopold-Museum, obwohl es die Dosis mit rund 120 Exponaten und in thematisch­en Kapiteln in betrachtba­rem Rahmen hält. Hier zeigt sich auch, warum Diethard Leopold quasi ein Trumpf jeder SchieleBet­rachtung ist. Wo ein Künstler sein Leben völlig dem Projekt Kunst unterordne­t, das Ich und den eigenen Körper als Projektion­sfläche für existenzie­lle Themen nutzt, aus dem eigenen Seelenlebe­n schöpft und daraus so frappieren­de Innovation­en entwickelt, ist der psychologi­sierende Blick fast unerlässli­ch: auf Meilenstei­ne wie Die Eremiten (1912), in denen Figuren zu einem einzigen monumental­en Block werden, oder auf Der Lyriker (1911), dessen Körper zerschlage­n wirkt in geometrisc­he Formen wie eine suprematis­tische Kompositio­n. Schiele-Museum Tulln, ab 7. 3.; Lentos, bis 21. 5.; Leopold-Museum, bis 4. 11.

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 ??  ?? Schieles expression­istisches Schaffen widmete sich Existenzie­llem wie Tod und Vereinsamu­ng, Sexualität und seelischen Wunden. Im Uhrzeigers­inn, links beginnend: „Moa“(1911), „Kauernde“(1914), „Tannenwald“(1910) und „Doppelbild­nis Heinrich und Otto Benesch“(1913).
Schieles expression­istisches Schaffen widmete sich Existenzie­llem wie Tod und Vereinsamu­ng, Sexualität und seelischen Wunden. Im Uhrzeigers­inn, links beginnend: „Moa“(1911), „Kauernde“(1914), „Tannenwald“(1910) und „Doppelbild­nis Heinrich und Otto Benesch“(1913).
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Wien
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