„Die Populisten sind zum neuen Establishment geworden“
Italienischer Politologe Orsina glaubt an Koalition von Grillos Fünf- Sterne-Bewegung mit den Sozialdemokraten
Die Nachricht platzt Montagmittag in Rom wie eine Bombe in das Gespräch des Politologen Giovanni Orsina mit ausländischen Journalisten: „Matteo Renzi tritt zurück!“, ruft eine Reporterin aus – sofort beginnen alle Mobiltelefone im Raum zu vibrieren. Newsflash. „So schnell! Das ist jetzt aber sehr interessant“, kommentiert Orsina die Nachricht. Die Untertreibung des Tages.
„Ohne Renzi ist der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) kopflos“, kommentiert der Professor der Universität LUISS in Rom die neue Lage. Fünf Minuten zuvor hatte er noch gemeint, dass eine Koalition der siegreichen Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) von Luigi Di Maio mit dem PD am meisten Sinn ergeben würde.
„Diese Variante ist soeben ein kleines bisschen weniger wahr- scheinlich geworden. Oder es wird länger dauern, bis sie kommt“, sagt Orsina, bleibt aber dabei: „Wenn die Sozialdemokraten überleben wollen, würde ich ihnen empfehlen, mit Di Maio in eine Regierung einzutreten. Sie müssen wie ein Alien in den Körper des Feindes eindringen und von ihm leben. Sonst werden sie sterben.“
„Reiche Ernte einfahren“
Die Grillini – benannt nach Gründer Beppe Grillo – seien der einzige wahre Sieger dieser Parlamentswahl. Und auch wenn Grillo immer als Parole ausgegeben hat, man werde lieber allein untergehen, als mit jemandem zu paktieren, so sei jetzt die Lage eine ganz andere, erklärt Orsina: „Die Wahl hat Di Maio gewonnen, der Sieg gehört zu einem großen Teil ihm – jedenfalls mehr als Grillo, der sich zuletzt stark zurückgezogen hat. Und wenn ich Di Maio wäre, würde ich jetzt die reiche Ernte einfahren. Ich würde einkassieren, was geht. Und am besten kann er das mit den Sozialdemokraten als Partner.“
Aber was hätten diese von einer solchen Allianz? „Die Frage ist vielmehr: Was hätten sie, wenn sie sich nicht darauf einlassen? Den politischen Tod. So aber können sie aus einer Regierungsposition heraus wieder zu sich selbst finden“, analysiert der Politologe und spinnt den Gedanken weiter: „Der PD besteht ja aus vielen klugen Köpfen. Sie werden bloß von wenigen gewählt. Eine Koalition mit den Grillini könnte für beide Seiten erfolgversprechend sein. Motto: ‚Ich habe die klugen Köpfe, und du hast die Wähler.‘ Derart könnte die Fünf-Sterne-Bewegung an Profil gewinnen“, überzeugt.
Der PD stecke in einer tiefen Krise – aber nicht erst seit Renzi. Dieser habe den Verfall höchstens ein bisschen beschleunigt, meint der 50-jährige Politikprofessor. Der Trend sei unvermeidlich gewesen.
Wenn wir schon die alten Wahlallianzen über Bord werfen: Warum dann keine Regierung Di Maios mit Matteo Salvini von der rechten Lega Nord? „Das wäre das Dümmste, was Salvini tun könnte“, wehrt Orsina ab. „Wieso sollte er als starker Zweiter sich dem noch stärkeren Ersten unterwerfen? Nein, Salvini wäre besser beraten, in Opposition zu bleiben und das nächste Mal noch mehr abzusahnen. Dann stehen nämlich die rund 13 Prozent der Forza Italia zur Disposition.“ Politologe Giovanni Orsina: „Wie ein Alien sein.“ ist Orsina
Kein gutes Zeugnis für den Cavaliere und seine Partei also. Orsina: „Silvio Berlusconi ist wohl mit 81 Jahren politisch endgültig am Ende. Er, der geniale Wahlkämpfer, hat im Wahlkampf versagt und ist hinter seinen Kompagnon Salvini zurückgefallen. Seine Partei Forza Italia könnte in ein, zwei Jahren Geschichte sein.“
Mit dem Partito Democratico als Schatten seiner selbst und der Forza Italia als sich auflösende Kraft: Wer ist dann Italiens politische Zukunft? Wirklich Di Maio und Salvini? „Ja, die Populisten sind am gestrigen Sonntag zum neuen Establishment geworden. Sie sind immer noch Populisten, aber jetzt auch Establishment.“
Und wohin wird die Reise wohl gehen? „Keine Ahnung, wir sind wie Kolumbus, wir befahren unkartiertes Gewässer“, sagt Orsina. „Die Fahrt kann uns überall hinbringen. Oder nirgendwohin.“