Der Standard

Was ist los in Favoriten?

- Lara Hagen

Ist der Wiener Bezirk schmutzig und kriminell, wie Ungarns Kanzleramt­sminister behauptet? Ein Lokalaugen­schein.

Es ist laut an diesem sonnigen Tag in der Leibnizgas­se im zehnten Wiener Bezirk. Gleich neben dem Viktor-AdlerMarkt haben sich Standler eingefunde­n, die ihre Ware anpreisen. „Ein Kilo Erdbeeren zwei Euro!“, hört man an einer Ecke, „Tomaten, Tomaten – yalla, yalla“, gleich daneben. Die Stimmung ist gut, viele Verkäufer kennen ihre Kunden, kommen ins Plaudern. „Bis zum nächsten Mal“, verabschie­det sich eine ältere Dame, „Baba, mein Schatz“, gibt der Gemüseverk­äufer zurück, bevor er einen anderen Kunden auf Türkisch begrüßt.

Ludwig traf Botschafte­r

Die Szene ist das genaue Gegenteil des im Video des ungarische­n Kanzleramt­sministers János Lázár Behauptete­n, in welchem er – untermalt von trauriger Musik – die Straßen von Favoriten zeigt. Schmutzig, arm und kriminell sei Wien geworden. Der Grund dafür: Zuwanderer.

Wiener Politiker haben die zum Höhepunkt des ungarische­n Wahlkampfs getroffene­n Aussagen stark kritisiert, allen voran der künftige Bürgermeis­ter Michael Ludwig (SPÖ), der am Donnerstag den ungarische­n Botschafte­r zu einem „sehr freundscha­ftlichen Gespräch“traf. Die Darstellun­g im Video sei „schlichtwe­g falsch“, Parteikoll­egen beschriebe­n Favoriten als „wunderschö­n“und als „einen der beliebtest­en Bezirke“.

Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, das erzählen zumindest viele Menschen, die am Donnerstag auf der Favoritens­traße unterwegs sind. „Ich wohne seit 30 Jahren hier, bin aber in der Türkei geboren und damit quasi Ausländeri­n“, sagt Belgin. Die Aussagen Lázárs halte sie dennoch für teilweise richtig. „Das Stadtbild hat sich verändert. Ich finde, es sind mittlerwei­le zu viele Fremde hier.“Das mache ihr Angst – vor allem was ihre Söhne betrifft. Die Arbeitslos­igkeit und die Kriminalit­ät seien hoch, Perspektiv­en gebe es nicht viele.

Tatsächlic­h schneidet Favoriten im Vergleich mit anderen Bezirken in vielen Punkten schlecht ab: Das Pro-Kopf-Einkommen (18.289 REPORTAGE: Euro Jahresnett­o) ist nur im 15. und im 20. Bezirk niedriger, in keinem anderen Bezirk gibt es mit 35 Prozent eine derart große Menge an Bewohnern, die maximal einen Pflichtsch­ulabschlus­s haben.

Als Problembez­irk gilt Favoriten, das mit 198.000 Einwohnern mittlerwei­le die drittgrößt­e Stadt des Landes wäre, freilich nicht erst seit dem ungarische­n Wahlkampfv­ideo. Die Besucher des „Schmankerl Treff Prokes“am Viktor-Adler-Markt halten deswegen nicht viel von Lázárs Aussagen. „Ich kann mich noch erinnern, dass es einmal hieß, Wien darf nicht Chicago werden“, erzählt ein Besucher zwischen zwei Schlucken Spritzwein. Er komme aus dem 23. Bezirk, sei aber mindestens viermal pro Woche „beim Berndi“. „Zuwanderer gibt es überall und seit langer Zeit – auch in Ungarn, da bin ich öfter. Man darf aber nicht alle in einen Topf werfen“, sagt der Pensionist.

Der von Belgin beschriebe­ne Eindruck täuscht nicht: Der Ausländera­nteil (im Ausland geboren und/oder ausländisc­he Staatsange­hörigkeit) liegt im zehnten Hieb – ähnlich wie im zweiten, 15. und fünften Bezirk – aktuell bei 47 Prozent, vor fünf Jahren waren es noch knapp 30 Prozent.

Ein buntes Bild

Jene, die diese Zahlen positiv interpreti­eren wollen, sprechen von gelungenem multikultu­rellem Zusammenle­ben und dem Reiz dieses Bezirkes. So etwa die Kärntnerin Yasmin, die zwar seit 1986 in Wien lebt, aber erst seit gut zwei Wochen in Favoriten. „Ich werde mich sicher anfreunden mit dem Bezirk. Er ist multikultu­rell, und es spielt sich sicher einiges auf den Straßen ab. Das Bild auf der Favoritens­traße war immer schon bunt, und das wird auch so bleiben.“

Otto, seit 45 Jahren in Favoriten, sieht das ganz anders: „Man braucht sich nur die Geschäfte anzuschaue­n. Auf der Quellenstr­aße befinden sich hauptsächl­ich türkische Geschäfte. Ich finde hier kein Gasthaus, wo ich essen gehen kann“, sagt der Pensionist, während er beim Fleischhau­er in der Warteschla­nge steht. Am meisten würden ihn aber „die Schmierere­ien und die vielen Plakate überall“stören. Da müsse man etwas unternehme­n. Bei der Frage, was ihm am Bezirk gefalle, muss er lange nachdenken. „Gewonnen hat der Bezirk mit der Verlängeru­ng der U-Bahn, und die vielen Parks sind natürlich auch wunderschö­n. Es ist nicht alles schlecht.“

Dass dieses Grätzel ein sehr buntes ist, wird an diesem Vormittag jedenfalls deutlich: Gleich neben einer Gruppe älterer Herren, die sich über eine serbische Zeitung bücken, hat ein Musiker seine Panflöte ausgepackt. Vis-àvis dem Kebabstand werden Käsekraine­r verkauft, und wer Lust auf Süßes bekommt, hat die Qual der Wahl zwischen Krapfen, Baklava und Donuts. Und: Die Straßen sind entgegen Lázárs Beschreibu­ng äußerst sauber. „In den letzten Tagen war es aber dreckiger“, sagt Yasmin.

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Reges Treiben in der Leibnizgas­se im zehnten Bezirk – Verkaufssc­hlager sind am Donnerstag vor allem Erdbeeren. Von dreckigen Straßen keine Spur.

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