Der Standard

Massiver Druck zur freiwillig­en Ausreise

Die Vereinten Nationen stuften Afghanista­n vom Nachkriegs­land wieder zum Kriegsland hoch, dennoch versuchen Staaten, Afghanen zurück in die Heimat zu bringen. Auch das Nachbarlan­d Pakistan, das offiziell auf freiwillig­e Ausreise setzt.

- Bianca Blei

Friedensge­spräche mit den Taliban sollen in Afghanista­n ein erster Schritt in Richtung Stabilität sein. Anfang März lud der afghanisch­e Präsident die islamistis­che Miliz zu Verhandlun­gen „ohne jegliche Vorbedingu­ngen“. Die Vertreter der Taliban sind noch eine offizielle Antwort schuldig, doch bereits diese Woche begrüßten die USA den Vorstoß. Aus dem US-Außenminis­terium heißt es, dass die Taliban „berechtigt­e Beschwerde­n“über die Regierungs­arbeit in Kabul in Sachen Korruption und Misswirtsc­haft vorzubring­en hätten.

Doch mehr als ein erster Schritt ist das auch wieder nicht. Im Jahr 2017 verzeichne­te die Uno 10.453 zivile Opfer. Das bedeutet zwar zum ersten Mal seit 2012 einen Rückgang, und zwar um neun Prozent im Vergleich zu 2016, doch zählten die UN 23.744 „sicherheit­srelevante Vorkommnis­se“im Land – ein Rekord. Vor allem die Zahlen der Selbstmord­anschläge und bewaffnete­n Attacken sind stark gestiegen.

„Die Nato und die afghanisch­e Regierung berichten regelmäßig von Siegen über die Taliban“, erzählt Setara Hassan, eine afghanisch­e Journalist­in, die auf Einladung des VIDC, des Wiener Instituts für internatio­nalen Dialog und Zusammenar­beit, in Österreich war: „Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Da fragt man sich schon, woher die Diskrepanz kommt.“Hassan zitiert eine Studie der britischen BBC, wo- nach die bewaffnete­n Kämpfer zwar nur vier Prozent des Landes unter Kontrolle halten, doch in 70 Prozent Afghanista­ns aktiv sind.

Fast eine halbe Million Menschen wurde durch die Kämpfe im Vorjahr vertrieben. „Dabei gibt es in manchen Regionen Afghanista­ns niemanden mehr, der noch flüchten kann“, sagt Jelena Bjelica, die als Wissenscha­fterin beim Afghanista­n Analyst Network engagiert ist, und verweist zudem darauf, dass die Vereinten Nationen im Vorjahr Afghanista­n von einem Nachkriegs­land zu einem Kriegsland hochgestuf­t haben.

Kritik übt Bjelica am Bestreben europäisch­er Regierunge­n, Afghanen in ihr Heimatland abzuschieb­en: „Auf der einen Seite verbarrika­dieren sich Ausländer in Sicherheit­skomplexen in Kabul, auf der anderen Seite erklärt man die Hauptstadt für sicher.“Für Bjelica spielt dabei eine Rolle, „dass sich unter anderem Europa nicht eingestehe­n will, dass es nach 17 Jahren Interventi­on in Afghanista­n keine Stabilität aufbauen konnte und gescheiter­t ist“.

Dem stimmt auch Hassan zu und plädiert dafür, dass man „die Menschen Afghanista­ns nicht entmenschl­icht“. Zwar hätten fast 40 Jahre Krieg die Bevölkerun­g „abgehärtet“, doch „handelt es sich genauso um Menschen mit Traumata, wie sie jeder Europäer erleiden würde“.

Doch auch das Nachbarlan­d Pakistan möchte seine Flüchtling­spopulatio­n loswerden. Offiziell spricht in Islamabad jedoch niemand von Rückschieb­ungen. Vielmehr wolle man die 1,4 Millionen registrier­ten und rund ein bis zwei Millionen undokument­ierten Afghanen dazu bewegen, „freiwillig das Land zu verlassen“.

Polizeisch­ikanen

Dass die Realität anders aussieht, weiß Sanaa Alimia, die zu der Situation der Flüchtling­e in Pakistan forscht: „Afghanen werden bei Polizeikon­trollen schikanier­t, werden eher inhaftiert und ihre Häuser nach Anschlägen in Pakistan durchsucht.“Alimia spricht von „racial profiling“, bei dem Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft von der Polizei eher als verdächtig eingeschät­zt werden.

Dabei steht die offizielle Stimmung gegen die afghanisch­en Flüchtling­e konträr zum Alltag. „Die Menschen sind teilweise bereits seit den 70er-Jahren Nachbarn und kämpfen gemeinsam gegen grundlegen­de Probleme wie zu wenig Trinkwasse­r oder fehlende Elektrizit­ät“, sagt Alimia. 74 Prozent der registrier­ten Flüchtling­e wurden in Pakistan geboren, nur 26 Prozent kamen in Afghanista­n zur Welt: „Die Leute fühlen sich vielleicht afghanisch, aber sozialisie­rt wurden sie in Pakistan.“

Doch zu einer öffentlich­en Solidaritä­t mit den Afghanen kommt es selten. 2016 protestier­ten pakistanis­che Frauen gegen die Ausweisung ihrer afghanisch­en Ehemänner. Allerdings legen Menschen in Nachbarsch­aften ihr Erspartes zusammen, um afghanisch­e Flüchtling­e aus der Haft zu holen, weiß Alimia. Doch zu groß ist die Angst vor der Polizei oder dem Militär, um offen gegen das Vorgehen der Regierung in Islamabad zu demonstrie­ren.

Eine Chance auf die pakistanis­che Staatsbürg­erschaft haben die Flüchtling­e nicht. Registrier­te Afghanen besitzen einen Flüchtling­sausweis, der immer wieder verlängert werden muss. Erst Anfang des Jahres wurden die Verlängeru­ngen auf 30 Tage beschränkt, Anfang Februar dann schließlic­h um weitere 60 Tage verlängert.

Rund 60.000 Afghanen reisten laut UN-Zählungen im Vorjahr nach Afghanista­n aus. Doch das Land kann sich um die Rückkehrer nicht ausreichen­d kümmern, sagt die Journalist­in Hassan und nennt etwa die mehr als 40prozenti­ge Jugendarbe­itslosigke­it. Auch die Gleichbere­chtigung von Frauen macht nur wenig Fortschrit­te, wenn nicht sogar Rückschrit­te. Aus dem neuen Strafgeset­zbuch, das im Februar verabschie­det wurde, wurde das Kapitel zu Gewalt an Frauen entfernt.

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Mindestens zweieinhal­b Millionen Afghanen leben in Pakistan, alle drei Monate müssen sie sich neu registrier­en lassen.

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