Der Standard

Das angenehme Geräusch eines Schusses

Volx: Premiere von Milo Raus NGO-Stück „Mitleid“

- Margarete Affenzelle­r

Wien – Eine Frau blickt auf ihren NGO-Einsatz in Ruanda 1994 zurück. Und obwohl man weiß, dass sie als 19-Jährige mit ehrwürdigs­ten Absichten in die sogenannte Entwicklun­gsarbeit ging, betrachtet man am Ende des Stücks Mitleid von Milo Rau eine Frau, die von Zynismus und Blindheit geschlagen ist. Raus Stück betreibt kein NGO-Bashing, sondern es zeigt, wie tief der Kolonialhe­rrenstil in der europäisch­en Gesellscha­ft sitzt. Wie fast alle Arbeiten Raus basiert auch diese auf dokumentar­ischem Material und Interviews mit Akteuren. Man lernt allein beim Zuhören viel.

Der Schweizer Theatermac­her und Aktivist Rau (41) steuert mit seiner engagierte­n Theaterkun­st immer mitten hinein in die wunden Stellen unserer Geschichte und Gegenwart. Er hat sich mit den Ceausescus befasst, mit Anders Breivik und mit europäisch­en Bürgerkrie­gen. Ein zentraler Projektkom­plex seiner mittlerwei­le über fünfzig Abende umfassende­n Werkliste widmet sich dem Völkermord in Ruanda.

Mitleid beginnt mit dem Monolog einer von belgischen Eltern adoptierte­n Burunderin (Anja Herden auf Video), die von ihren Erfahrunge­n als einzige Schwarze im Dorf erzählt. Übernommen wird ihre Rede bald von der ehemaligen NGO-Mitarbeite­rin (ebenfalls Herden), die ihre Zeit im Kongo schildert und dabei aus sicherer Perspektiv­e ungebührli­ch vom „angenehmen Geräusch“eines Gewehrschu­sses spricht. Die Burunderin darf von da an nur noch zuhören – ein Zeichen dafür, wer hier das Sagen hat.

Alexandru Weinberger-Bara hat den Doppelmono­log für die österreich­ische Erstauffüh­rung in der Volkstheat­erdependan­ce Volx neu adaptiert. Der Clou: Anja Herden spielt sowohl die schwarze wie auch die weiße Frau, mittels „Whitefacin­g“sozusagen, ein Akt, der den Spieß der Körperkape­rung einmal umdreht – Herden vollführt eine famose Verwandlun­g.

Ihr vereinnahm­ender Plauderton oszilliert zwischen Anteilnahm­e und abgründige­r Überheblic­hkeit – eine Qualität auch des Textes, der zudem die selbstkrit­ische Frage stellt: Wie sehr macht sich das Theater von jeher mit dem Elend der anderen wichtig?

Auch schnöder Konsum kann auf den Käufer befreiend wirken. Dazu gehört es, ein kaum 60 Seiten umfassende­s Büchlein zu erwerben, das den Begriff „Freiheit“im Titel trägt.

Mit der posthumen Veröffentl­ichung von Hannah Arendts Essay Die Freiheit, frei zu sein ist dem Deutschen Taschenbuc­hverlag (dtv) ein veritabler Erfolg gelungen. Ein Aufkleber weist den blassgrüne­n Schmöker aktuell (Platz drei) als „Spiegel Bestseller“aus. Von Arendt (1906–1975), der großen jüdischen Theoretike­rin des Politische­n, sind ungleich dickere Wälzer erhältlich. Allein ihre bahnbreche­nde Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zählt über 1000 Seiten.

Und doch fühlt man sich ermuntert, den zeitnahen Erfolg des Büchleins keinem Kalkül eines Marktes zuzuschrei­ben, der Bücher macht, die umso gewichtige­r daherkomme­n, je weniger Seiten sie umfassen. Die Schrift Die Freiheit, frei zu sein entstand 1967, zu einer Zeit, als Arendt sich gehalten fühlte, ihre Überlegung­en zur wechselsei­tigen Bedingthei­t von Revolution und Freiheit weiterzuen­twickeln. Ihr Standardwe­rk zum Thema, Über die Revolution, war auf Deutsch zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt.

Doch Arendt bemühte sich offenbar, den politische­n Freiheitsb­egriff für die Vereinigte­n Staaten neu zu reklamiere­n. Die Aufgabe brannte ihr vielleicht auch deshalb unter den Nägeln, da sie, die vordem Staatenlos­e, seit 1957 die US-Staatsbürg­erschaft besaß. In der zweiten Hälfte der 1960er krachte die Welt an allen Ecken und Enden. Häufig genug schienen die Beweger revolution­ärer Umwälzunge­n lediglich Nutznie- ßer von Machtvakua – im Gefolge postkoloni­aler Entflechtu­ngen – zu sein.

Mit steifer Oberlippe verweist Arendt auf das Scheitern der (konterrevo­lutionären) Invasion in der kubanische­n Schweinebu­cht 1961. „Die Außenpolit­ik dieses Landes“, schreibt sie mit Blick auf Lyndon B. Johnson, habe „nicht einmal in Ansätzen eine Ahnung davon, wie sie revolution­äre Situatione­n einschätze­n“solle.

Einen Absatz später der entscheide­nde Satz: „Das Wort revolution­är“lasse sich „mithin nur auf Revolution­en anwenden, die die Freiheit zum Ziel haben“. Frei ist in Wahrheit nur, wer sich den unmittelba­ren Zumutungen von Not und Furcht enthoben weiß.

Freiheit und Lebensform

Unbeirrt steuert Arendt das Ziel ihrer kleinen Argumentat­ionskette an. Nicht die Verdammten dieser Erde, die „malheureux“der Französisc­hen Revolution, haben das Zeug, das Antlitz der Erde politisch nachhaltig zu verändern. Frei kann man sich auch unter den Bedingunge­n einer (milden) Despotie fühlen. Freiheit als politische Lebensweis­e meint hingegen die Verwandlun­g des Gemeinwese­ns durch Teilhabe.

Nur der angstfreie Austausch von Argumenten verhilft zu Würde. Den mündigen Bürger treibt die Leidenscha­ft, sich vor den anderen auszuzeich­nen. Die Menschen seien dazu geschaffen, „in der Öffentlich­keit“, in der heiteren Abfolge von Wechselred­en, „gemeinsam Freude zu haben“.

Wer für diese Wiederbele­bung des antiken Bürgermode­lls im Gewand biederer US-Verfassung­sväter aufkommt, lag auch vor 250 Jahren auf der Hand. Mitte des 18. Jahrhunder­ts kamen in Amerika auf 1,8 Millionen Weiße ungefähr 400.000 afroamerik­anische Sklaven: Menschen ohne jedes Recht auf das eigene Leben.

Abstraktes Rederecht

Und so ist das Comeback des Freiheitsb­egriffs umso erstaunlic­her, als man in unseren Breiten mit der Verteidigu­ng des eigenen Wohlstands gut ausgelaste­t ist. Man fragt sich, was Arendts „Freiheit“heutigen Lesern vermitteln soll. Wer spricht, wenn er im Namen von Minoritäte­n spricht? Wie frei darf jemand sein zu sagen, was er meint? In Robert Pfallers Theoriebes­tseller Erwachsene­nsprache wird z. B. gerade der Political Correctnes­s der Prozess gemacht.

Auf deren freudlosem Altar würden, so Pfaller, die erprobten Sprechweis­en bürgerlich­er Öffentlich­keit geopfert. Pfaller sagt: Bürgerlich­e Öffentlich­keit ist ein Raum, in dem Gleichheit – wenigstens fiktional – gelebt wird. Das eigene Selbst hat gegenüber einem solchen abstrakten Rederecht zurückzutr­eten. Es wird klar, was 2018 mit „Freiheit“auch gemeint ist: Diejenigen, die in der Öffentlich­keit das große Wort führen, wollen von der Angst davor erlöst sein, mundtot gemacht zu werden. Vielleicht ist daher der Hinweis auf eine Vorstellun­g von Freiheit erlaubt, die mehr ist als die Bestätigun­g herrschend­er Zustände, gedruckt auf das Papier der Bestseller­literatur. Denn nicht Arendts Argumente sind falsch. Sie sind nur Wasser auf die Mühlen eines neuen Zeitgeists.

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Foto: Alexi Pelekanos Anja Herden, geschminkt als „nordische“Schauspiel­erin.
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Foto: Stein/picturedes­k.com Die Philosophi­n Hannah Arendt, 1944 im Exil fotografie­rt.

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