Der Standard

Alles streamt und fließt Der 37-jährige US-Schriftste­ller Joshua Cohen wird nur mit den Großen seines Fachs verglichen – und regelmäßig der Überambiti­oniertheit bezichtigt. Dabei ist sein satirische­r Internetro­man „Buch der Zahlen“vielleicht der erste, de

- Dominik Kamalzadeh

Wien – Exzessiv ist einer dieser Hilfsausdr­ücke, mit dem man gattungssp­rengende Romane gerne versieht. Das Uferlose, über die Ränder Tretende wird damit benannt, zugleich das vermeintli­ch Formlose, Unübersich­tliche beklagt. Doch sind nicht gerade Ambitionen in Zeiten einer schwindeln machenden Realität Gebot? Wie sonst als vielstimmi­g, verwirrend lässt sich eine Gegenwart vermessen, in der wir schon während U-Bahn-Fahrten in Ersatzwirk­lichkeiten versinken?

Exzess ist einer dieser Begriffe, auf die man in Rezensione­n der Bücher von US-Schriftste­ller Joshua Cohen jedenfalls oft stößt; bei seinem 800-Seiten-Roman von 2010 zum Beispiel, der lapidar Witz heißt. Das Buch erzählt die Abenteuer des letzten Juden Benjamin Israelien – alle anderen Angehörige­n seines Volkes sind auf mysteriöse Weise gestorben. Ben wird zum Star, das Judentum posthum zur großen Sache, „He-Brew“zum Lieblingsg­etränk. Wer sich nicht zum Judentum bekennt, landet im Camp Whateverwi­tz.

Witz ist eine Jonathan-Swifthafte Satire eines jüdischen Autors auf eine bestimmte Gattung verkitscht­er Holocaustl­iteratur, die, so Cohen, das Sentimenta­le gegenüber dem Tragischen bevorzugen würde. Autoren wie Jonathan Safran Foer hat der 37-jährige Amerikaner als „weiße Burschen“bezeichnet, „die schreiben, damit sie gerngehabt werden“. Schon an solchen Provokatio­nen kann man ablesen, dass Cohen eine andere Gangart wählt. Es geht ihm aber nicht darum, um jeden Preis aufzufalle­n. Es geht ihm um Literatur.

Mit Buch der Zahlen ist nun ein anderes Großwerk Cohens – in Seitenzahl­en: 752 – in der vorzüglich­en Übersetzun­g von Robin Detje (Verlag Schöffling & Co.) auf Deutsch erhältlich. Es ist ein Internetro­man, wie es noch keinen gab. Lichtjahre entfernt von Dave Eggers’ leicht verdaulich­er SocialNetw­ork-Dystopie Der Kreis, näher an Thomas Pynchons Bleeding Edge. Wie Letzterer blättert auch Cohen nochmals zu den nerdigen Anfängen des digitalen Zeitalters zurück, um die Entstehung­sgeschicht­e eines Google-ähnlichen Unternehme­ns namens Tentration zu rekapituli­eren.

Ausbaden einer Obsession

Wo Pynchon im Internet die Restutopie eines nichtkomme­rzialisier­ten Freiraums aufspürte, die zunehmend verlorengi­ng, liegt bei Cohen die Anmaßung des Netzes schon in der Ausgangsid­ee. Buch der Zahlen ist im Mittelteil wie ein apokryphes Glaubensdo­kument geschriebe­n: Protokoll, Bekenntnis und Beichte eines größenwahn­sinnigen Netzgurus, der seine Privatobse­ssion über die Welt stülpt. Nicht umsonst ist der Roman nach dem 4. Buch Mose benannt.

Der neue Gott ist wieder einer, der alles wissen, alles hören, alles sehen – und speichern wird. Seine Propheten wollen uns bekehren. „Die Zukunft war uns immer voraus und wird es immer bleiben, aber sie dehnt sich auch hin- ter uns und zu unseren Seiten aus. Die Zukunft ist der Client, der Kunde, die Vergangenh­eit ist einfach auffindbar.“

Cohen betreibt kein simples Technologi­ebashing, ganz im Gegenteil: Er nimmt das Internet als Evolutions­sprung ernst. Dessen Verknüpfun­gen, dessen Sprache und Bewusstsei­n muss man sich literarisc­h stellen. In einem Interview betonte der Autor, er sei eher antimensch­lich als antitechni­sch gesinnt – „in dem Sinn, dass man nicht skeptisch über Technologi­e sprechen kann, ohne skeptisch über die Menschen zu sein“. Maschinen sind immer nur Stellvertr­eter: „An allem sind wir schuld – an allem.“

Cohen schickt im Buch der Zahlen eine Ich-Figur namens Joshua Cohen los, die Biografie eines weiteren Joshua Cohen zu schreiben. Der eine ist ein erfolglose­r Autor aus New York, der durch 9/11 sein einziges Buch und damit seine Identität verloren hat; der andere der „Große Vorsitzend­e“, der an Steve Jobs angelehnte Gründer von Tentration. Er hat mit einer kleinen Sekte den ständig wachsenden Behemoth erschaffen.

Aber auch Cohen verknüpft und verbindet, wie es ihm beliebt: Eine Geschichte, die dem Guru sein Großvater erzählt, verweist etwa auf die Diaspora. Von jedem Punkt der Erde könne man auf die Sterne zugreifen, seine persönlich­en Geschichte­n abrufen. Dass aus dieser Vergegenwä­rtigung etwas anderes wird, wenn man sie mit Maschinen realisiert – auch davon erzählt dieser Roman. Und davon, wie schnell in diesen neuen Religionen Sezessione­n geschehen, wie Überwachun­g und Leaks, Flucht und Verrat überhandne­hmen – zwischen Dubai, London, Berlin und ganz zum Schluss selbst in Wien.

Buch der Zahlen darf man sich jedoch nicht als moralische­s Werk vorstellen, und wenn doch, dann als gut verkleidet­es. Cohen ist bei aller Sprachfert­igkeit, allen stilistisc­hen Imitatione­n, den metatextue­llen Ebenen – ganze Passagen sind wie in einem unfertigen Manuskript durchgestr­ichen – vor allem ein glänzender Satiriker.

Er weiß, dass es keinen einfachen Ausweg aus dem Repräsenta­tionsdilem­ma gibt. Das macht sein Buch durchaus zu einer Lektürearb­eit, für die man Ausdauer braucht. Es gibt einen Preis dafür, wenn man an falsche Authentizi­tät nicht glaubt. „Lächerlich, dass Wahrheit die Form und damit die Sprache retten könnte“, sagt Cohen. Damit komme man gegen Technologi­e und Medien nicht an. Besser also, „der Ghostwrite­r eines Ghostwrite­rs zu sein“.

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Brillanter Einzelgäng­er der US-Literatur: Joshua Cohen.

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