Der Standard

Als die Stadt sich ihr Schtetl amputierte

In Mattersbur­g begann der Terror mit streberhaf­ter Bösartigke­it bereits am 11. März 1938. Und schon im September war die Stadt mit ihrer 400-jährigen Kehilla „judenfrei“.

- Wolfgang Weisgram

Keiner ist darauf gefasst gewesen. Nicht darauf, mit welcher brutalen Unverzügli­chkeit der Umbruch geschah. Noch bevor die deutsche Wehrmacht den Walserberg erreicht hatte, rückte Hitlers Fünfte Kolonne aus. Im Burgenland besonders zügig. In Mattersbur­g so zügig, als fürchteten die illegalen Nazis, beim Aufteilen der Beute zu kurz zu kommen. Und darum machten sie sich schon am 11. März 1938 ohne Verzögerun­g ans Werk: Franz Giefing, der Ortsgruppe­nleiter und demnächst Bürgermeis­ter; Anton Weissenste­iner, der Kreisleite­r; Karl Sobota, sein Stellvertr­eter, ein Bankbeamte­r.

Halbwegs sprungbere­it war nur der Mattersbur­ger Arzt gewesen, Richard Berczeller. Aber aus anderem Grund. Berczeller war aktiver Sozialdemo­krat. Nach dem Verbot der Partei 1934 schloss er sich den Revolution­ären Sozialiste­n an, schmuggelt­e aus Bratislava die dort gedruckte Burgenländ­ische Freiheit in den heimatlich­en Untergrund.

„Gott schütze Österreich“

Nun, am Abend des 11. März 1938, die Familie Berczeller saß beim Abendessen, wich Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g mit wortreiche­r Verzweiflu­ng der Gewalt, drehte via Radio die Augen himmelwärt­s und bat: „Gott schütze Österreich.“

Richard Berczeller war klar, dass Gott das nicht tun würde. Er holte das wegen der StändeSche­rgen bereitlieg­ende Fluchtgepä­ck, den Pass und ein paar Schilling und rannte zum nahen Bahnhof. „Dort warteten bereits“, erinnerte er sich in seiner Autobiogra­fie Displaced Doctor, „zwei Gendarmen mit Hakenkreuz-Binden am Arm. Beide waren Patienten von mir.“Und nahmen ihn nun – unten in der Judengasse marschiert­e schon der nicht nur auswärtige Mob, skandieren­d: „Horuck nach Palästina!“– in „Schutzhaft“.

Die Gendarmen mit der rasch auf die Montur montierten Armbinde waren gute Bekannte. No na in der 5000-Einwohner-Stadt, die bis 1924 Mattersdor­f geheißen hat. Da hatten sich die Stadtväter Hoffnungen gemacht, Landeshaup­tstadt des erst vor drei Jahren österreich­isch gewordenen Burgenland­es zu werden.

Im Gefangenen­haus des Bezirksger­ichts trafen nach und nach gute Freunde ein. Dr. Ludwig Gießkann zum Beispiel, der Zahnarzt. Leo Schotten, der in der Judengasse eine kleine Bettfedern­fabrik betrieb. Oder Dr. Ernst Brandl, der gleich neben dem Gerichtsge­bäude ein Textilgesc­häft hatte. Man entließ sie, verhaftete sie kurz später wieder. Es ist ein grausames Spiel gewesen.

Die Berczeller­s wurden schon am nächsten Tag aus der Wohnung und der Ordination geworfen. Bei der befreundet­en Familie Brandl fanden die Gattin Maria und der Sohn Peter notdürftig­en Unterschlu­pf. Von dort konnte der sechsjähri­ge Peter beobachten, wie die Einrichtun­g ihrer Wohnung hinausgetr­agen wurde. „Die Nazis damals, 1938, waren einfach Diebe, die den Juden alles gestohlen haben“, sagt er, „die Ideologie ist erst später gekommen.“

Ernst Brandl berichtete 1947 als Zeuge vorm Volksgeric­ht im Verfahren gegen Karl Sobota, dass dieser, Kreisleite­r Weissenste­iner und Bürgermeis­ter Giefing ihn vor die Alternativ­e gestellt hätten, entweder 20.000 Schilling zu zahlen oder nach Dachau transporti­ert zu werden. „Ich sagte zu, obwohl ich den Betrag damals nicht besaß. Daraufhin erhöhte Weissenste­iner den Betrag auf 50.000.“

Der Raub geschah nicht ohne sadistsche Exzesse. Die Inhaftiert­en wurden mit Scheinexek­utionen gequält, geschlagen und gedemütigt. Ernst Brandl: „Wir durften damals nicht mit Schuhen den Raum betreten und mussten barfuß oder mit Strümpfen dorthin gehen. Mich verurteilt­e man zu 25 Stockschlä­gen, die sofort vom Bürgermeis­ter Franz Giefing als Exekutions­organ vollzogen wurden. Da ich dabei nicht jammerte, wurden mir nochmals 25 Stockschlä­ge von Franz Giefing verabreich­t. Abschließe­nd wurde ich von der ganzen Gesellscha­ft noch geohrfeigt und ins Arrestloka­l zurückgefü­hrt.“Und so geschah es auch mit anderen „Schutzhäft­lingen“.

Grausam und gespenstis­ch

In den jüdischen Häusern wurde geplündert, geschlagen und vergewalti­gt. Anton Weissenste­iner, so vermerkt es die Anklage am Volksgeric­ht, fuhr in diesen Tagen mit Vorliebe mit dem Auto durch die Judengasse, „und wenn er dabei einem Juden begegnete, ließ er Halt machen, trat auf denselben zu, versetzte ihm ein paar Ohrfeigen und fuhr dann wieder weiter“.

Es war nicht nur grausam, sondern auch gespenstis­ch. Seit 400 Jahren gab es hier eine große jüdische Gemeinde, die nun, 1938, 530 Menschen zählte. Mattersdor­f war Teil der Sheva Kehillot, der Siebengeme­inde auf Esterházyg­rund. Unter der Rabbinerfa­milie Ehrenfeld wurde Mattersdor­f sogar zum theologisc­hen Zentrum einer strengen, etwas aus der Zeit gefallenen Orthodoxie. In die Jeschiwa, die Talmud-Hochschule, wurden junge Männer aus aller Herren Länder geschickt. Man genoss Ansehen. 1931 hatte Bundespräs­ident Wilhelm Miklas Samuel Ehrenfeld das „Goldene Verdienstz­eichen der Republik Österreich“verliehen.

Schon in den Märztagen wurden die ersten Juden aus der Stadt getrieben. Nach einer Verzichts- erklärung auf ihr Eigentum wurde ihnen aufgetrage­n, binnen kurzer Zeit Mattersbur­g zu verlassen. Streberisc­h in ihrer Bösartigke­it, amputierte­n die Schergen dem Städtchen über den Sommer das Schtetl. Am 30. September feierte man, wie das einst rote Kleine Blatt am 8. Oktober verkündete: „Im Zeichen der Erlösung von der Judenplage ließ der Ortsgruppe­nleiter und Bürgermeis­ter unter Teilnahme einer jubelnden Menge auf dem ehemaligen Judentempe­l eine weiße Flagge hissen.“

Auch der ehrwürdige Rabbi mit seiner Familie musste Mattersbur­g verlassen. In Pressburg/Bratislava, wohin die Familie enge Verbindung­en hatte, sagte man ihnen, so der 2012 mit 89 Jahren verstorben­e Akiwa Ehrenfeld: „Ihr habt den Wanderstab schon in der Hand. Zieht weiter.“

Die Ehrenfelds wanderten nach New York, wo sie die Mattersbur­ger um sich scharten, die jenes Glück hatten, von dem Peter Berczeller erzählt: „Wir hatten 1938 Glück im Unglück! Da die Vertreibun­g der Juden aus dem Burgenland mit einer ungeheuren Vehemenz und Rasanz betrieben wurde, waren noch viele Fluchtwege offen.“Rund 100 Mattersbur­ger hatten dieses Glück nicht.

Die Brandls mit ihrer zweijährig­en Tochter fanden Zuflucht bei Verwandten im einstigen Galizien, erlebten das Kriegsende in Budapest. Sie gehörten zu den ganz wenigen, die zurückkame­n. In ein ganz anderes, gewisserma­ßen verstümmel­tes Mattersbur­g. Der jüdische Friedhof war dem Erdboden gleichgema­cht; die Judengasse und das angrenzend­e alte Ghetto waren geschleift. Die Freunde tot oder in alle Welt zerstreut.

Die Berczeller­s verschlug es – via Frankreich, Elfenbeink­üste, Marokko – nach New York. Immer wieder kehrten sie, von Heimweh getrieben, ins Burgenland zurück. Richard Berczeller wurde zum Mentor und väterliche­n Freund des späteren Bundeskanz­lers Fred Sinowatz.

Die Ehrenfelds und ihre Gemeinde übersiedel­ten 1948 ins neu gegründete Israel. Im Norden Jerusalems schufen sie das Kirjat Mattersdor­f, wo sie versuchten, das alte Mattersdor­fer Leben weiterzufü­hren. Mittlerwei­le reist schon der Enkel von Samuel, Isaac Ehrenfeld, als höchster Repräsenta­nt zuweilen in die alte Heimat: zuletzt im vergangene­n Herbst, als am leergeblie­benen Platz der zerstörten Synagoge Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen eine Erinnerung­sskulptur gewisserma­ßen eröffnete.

Franz Giefing, Anton Weissenste­iner und Karl Sobota mussten sich nach dem Krieg vor dem Volksgeric­ht für ihre Untaten verantwort­en. Franz Giefing wurde zu Vermögensv­erlust und drei Jahren schwerem Kerker verurteilt. Anton Weissenste­iner erhielt zehn Jahre Kerker. 1949 kam er frei.

Der Minusmann

Karl Sobota wurde zu drei Jahren verurteilt und siedelte sich wieder in Sauerbrunn nahe Mattersbur­g an, wo er, wie vorm Anschluss schon, sein Brot bei der örtlichen Sparkasse verdiente.

1964 attackiert­e ihn sein Sohn im Rausch mit einem Hammer. So begann dann endgültig die Häfenkarri­ere des Zuhälters Heinz Sobota, der in den späten 1970erJahr­en mit dem Buch Der Minusmann zu einigem Ruhm gekommen war.

Denn die – wie man so sagt: sinnlose – Gewalt hat auch etwas Fasziniere­ndes. Irritieren­d, aber fasziniere­nd. Am 16. und 17. März zeigt die Grazer Diagonale eine Doku über den Minusmann, der im Vorjahr 73-jährig verstorben ist. pwww. wir-erinnern.at

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Zum Jubeln sind sie auf den Hauptplatz geschickt worden. Das aber ist ihnen nicht besonders gut gelungen. Worüber hätten die Mattersbur­ger Schulkinde­r auch jubeln sollen? Dass man den Onkel Doktor kurz zuvor aus seinem Haus (links) geworfen hat?

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