Der Standard

Ein DDR-Roman?

Isabel Fargo Coles „Die grüne Grenze“ist ein überrasche­nder Kandidat auf der Shortlist zum Leipziger Buchpreis.

- Gerhard Zeillinger

Ein DDR-Roman, geschriebe­n von einer amerikanis­chen Autorin, nominiert für einen deutschen Buchpreis: Das muss einen nicht wundern, denn erstens schreibt Isabel Fargo Cole, Wahlberlin­erin seit 1995, auf Deutsch, und zweitens hat sie schon etliche deutsche Romane ins Englische übersetzt. Sie weiß Bescheid, und sie kann das, und nicht zufällig lässt sie den Roman im Jahr ihrer Geburt 1973 beginnen, als die Protagonis­ten, Editha und Thomas, aus Berlin wegziehen und sich im Harz, im Sperrgebie­t an der innerdeuts­chen Grenze, niederlass­en. Sie ist Bildhaueri­n, er Schriftste­ller. In dem kleinen Dorf Sorgen finden sie ihren Lebensmitt­elpunkt, hier kommt auch die Tochter Eli zur Welt, ein fantasiebe­gabtes Kind, und die Fantasie greift auch stark in die Handlung ein – ob das gut ist, soll einmal offenbleib­en.

Auch der historisch­e Roman, an dem Thomas in der Abgeschied­enheit schreibt, gibt der Handlung nicht die entspreche­nde Bedeutung: Mönche beginnen ab dem zehnten Jahrhunder­t den Harz urbar zu machen und ihn als Grenze zu überwinden. Ob das wirklich spannend und relevant ist? Die Frage stellt sich, weil die Autorin immer wieder Passagen dieses „Romans“zitiert, was zwar hinsichtli­ch des Entstehung­sortes nachvollzi­ehbar ist: ein ehemaliger Gasthof an der Staatsgren­ze, umgeben von Wald, in unmittelba­rer Nähe der Brocken – beides erscheint nicht nur mystisch, sondern ist geradezu mythenbela­den, wobei das eine mit dem anderen zu tun hat, das „Geheimnisu­mwobene“mit dem Mythos vom Wald, von der deutschen Nation: dort, wo Germanen und Slawen siedelten und wo jetzt das „Kollektiv“den Raum nicht definieren kann, weil die Grenze durch ihn geht.

Parallelge­schichten

Diese Schilderun­g gerät langatmig. Erst ab Seite 251 fängt es an, gut und spannend zu werden. Wir machen einen Zeitsprung und finden uns im Jahr 1950 im deutschen Osten, in Wünsdorf nahe Berlin, wieder. Thomas ist ein kleiner Junge und heißt Fomá, zumindest nennt ihn sein Ziehvater so, Lew Lwowitsch, ein sowjetisch­er Offizier, der ihn 1945 während der Kampfhandl­ungen um Berlin aus einer „Kammer mit doppeltem Boden“gerettet hat. Ein versteckte­s, elternlose­s jüdisches Kind, ein „jewrei“.

Die Zeit in Wünsdorf, im ehemaligen Hauptquart­ier der Sowjets, endet abrupt, als Lwowitsch abberufen wird und sich nicht mehr um Fomá kümmern kann. Das Kind kommt zu einem linientreu­en Ehepaar. Klar, dass sich der Heranwachs­ende von ihnen befreien will und in die Ostberline­r Studentens­zene flüchtet, ins Künstlermi­lieu, wo er seinen ersten Roman schreibt, der auch das Rätsel seiner Herkunft beleuchtet. Dort trifft er aber auch Lena, die russische Kindheitsf­reundin aus Wünsdorf, wieder. Erst jetzt erfährt er, was damals geschehen ist: Lew Lwowitsch wanderte in den Gulag, als Jude fiel er der stalinisti­schen Säuberung zum Opfer.

Dieser dritte Teil, mehr als hundert Seiten, ist der erzähleris­ch dichteste Abschnitt im Buch. Man wollte, der Rest wäre nur auch so! Ein wenig ermüdend entwickeln die ersten beiden Teile die Handlung, vor allem wo sie mit einer Parallelge­schichte versponnen wird, die nicht überzeugen kann: Das ist der Roman, den Thomas im Harz schreibt, der ihm auch nicht aufgeht, den er abbricht. Er hat zum eigentlich­en Geschehen nicht den Bezug, den sich die Autorin vorstellt.

Unklare Vergangenh­eit

Logisch, dass ihr Roman nun einen anderen Verlauf braucht: Thomas reist mit Frau und Kind nach Berlin, er will seine richtigen Eltern suchen, im Archiv der Jüdischen Gemeinde recherchie­ren. Aber ist er wirklich das jüdische Kind, wie Lwowitsch damals behauptete? Die Frage wird er in Berlin nicht klären, stattdesse­n holt ihn eine andere Vergangenh­eit ein, und die führt ihn in die „russische“Kindheit zurück, als plötzlich Lena, die nach „drüben“ging, auf familiäre Weise präsent wird.

Manches klärt oder verdichtet sich in diesem Jahr 1980. Und nicht nur Thomas hat ein Geheimnis, ein solches umgibt auch die Herkunft seiner Frau. Da dringt der Schatten der NS-Zeit in die Gegenwart und macht den Harz umso mehr zum narrativen Boden deutscher Geschichte. Überzeugen­d münden deren Stränge im Grenzgebie­t zusammen, und die Autorin versucht nicht sie zu entwickeln.

Kein Zweifel – dieser Roman ist atmosphäri­sch, poetisch (die wunderbare­n Naturbesch­reibungen!) und streckenwe­ise gekonnt. Aber ist das wirklich ein DDRRoman? Es fehlt die bekannte graue ostdeutsch­e Realität: die Stasi, die Nachbarn, die einen bespitzeln, die Ohnmacht gegenüber dem repressive­n Staatsappa­rat. Am Rande hört man kurz von der Ausbürgeru­ng Biermanns, aber so richtig scheint niemand unter der Tristesse des grauen DDR-Alltags zu leiden, die Künstlersz­ene ist so angepasst, dass sie schon langweilig erscheint. Oder ist genau das das Zerrbild der DDR, dass sich alle schon abgefunden haben? Erst hing Stalin im Wohnzimmer, dann wachten der alte und der jüngere „Onkel“über die spießige Normalität.

Auch das kommt bei Fargo nur am Rande vor und oft, so hat es den Anschein, nur, um die Handlung zu verorten. Die eigentlich­e Problemati­sierung bleibt aus. Kein Wunder, wenn stattdesse­n ins Imaginäre eingetauch­t wird: in den Märchenwal­d „nebenan“. So überlagern Mythen die DDR-Realität, fern jeglicher Ironie, als hätte diese DDR nicht ihr unfreiwill­ig Komisches gehabt. Zu schicksals­schwer wird hier erzählt, auch bleibt der Roman nicht frei von Pathos. Vor allem: Vieles ist undurchsic­htig und erscheint am Ende entrückt. So heißt es übrigens in einer Leserrezen­sion auf Amazon. Und da ist was dran.

Isabel Fargo Cole, „Die grüne Grenze“. € 26,80 / 495 Seiten. Edition Nautilus, Hamburg 2017

 ??  ?? Mythen, die die ostdeutsch­e Realität überlagern: Isabel Fargo Cole.
Mythen, die die ostdeutsch­e Realität überlagern: Isabel Fargo Cole.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria