Der Standard

„Wenn die Justiz nicht funktionie­ren soll“

Der NS-Kriegsverb­recher Franz Murer wurde 1963 in Graz freigespro­chen. Im Film „Murer – Anatomie eines Prozesses“, der heute die Diagonale eröffnet, geht Regisseur Christian Frosch diesem Justizirrt­um auf den Grund. Ein Gespräch darüber, warum der Fall fü

- INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh

Wien/Graz – Am 19. Juni 1963 wurde ein Freispruch gefeiert. Der steirische SS-Führer Franz Murer wurde vor dem Gericht mit Jubel und Blumen begrüßt. Aufgrund internatio­nalen Drucks war der auch als „Schlächter von Wilna“bekannte NS-Täter erstmals in seiner Heimat, in Graz, vor Gericht gestellt worden. Eigentlich hätte dies schon 1955 geschehen sollen, als Murer aus der Sowjetunio­n nach Österreich überstellt wurde.

Der Fall gilt als eines der blamabelst­en Beispiele dafür, wie die heimische Justiz mit Kriegsverb­rechern verfahren ist. Dennoch – oder gerade deshalb – hat er hierzuland­e keinen Platz im öffentlich­en Gedächtnis gefunden. Der Filmemache­r Christian Frosch hat den Gerichtsfa­ll nun nach gründliche­r Recherche mit dem exzellente­n Karl Fischer im Titelpart dramatisie­rt. Das Ergebnis ist ein Spielfilm, der seine Beweisführ­ung ohne Sensationa­lismus, dafür mit kühler Prägnanz vollzieht: Zeugen erinnern sich an Murers Gräueltate­n. Aber im Saal stoßen ihre Worte auf taube Ohren.

Murer – Anatomie eines Prozesses wird darüber auch zu einem Film, der vom österreich­ischen Schlängelk­urs durch die Nachkriegs­geschichte erzählt. Heute Abend wird der Film die Diagonale in Graz eröffnen, ab Freitag ist er regulär im Kino zu sehen sein.

STANDARD: Mit welchen Gefühlen blicken Sie der Premiere entgegen – in der Stadt, in der auch der Prozess stattgefun­den hat? Frosch: Es ist ein spezieller Ort und ein spezieller Zeitpunkt: Bei 13. März habe ich zuerst gestutzt. Dann fand ich aber, dass die Auswahl recht passend ist. Ich glaube schon, dass der Film Debatten auslösen wird, weiß aber nicht, was heute Abend passiert.

STANDARD: Man könnte bei „Murer“von einem Gerichtssa­aldrama sprechen, wenn es nicht um Grundsätzl­icheres ginge. Es handelt sich um einen symptomati­schen Fall für die österreich­ische Nachkriegs­identität. Wie sind Sie mit dem Verhältnis zwischen Genre und Geschichte umgegangen? Frosch: Ausgangspu­nkt für den Film war eigentlich das Schlussplä­doyer des Verteidige­rs. Da wurde mir bewusst, dass hier nicht ein Einzelner, sondern ganz Österreich vor Gericht steht. Der Verteidige­r hat es darauf zugespitzt, dass mit Franz Murer ein Sohn unseres Landes von ausländisc­her Seite belangt wird. Da dachte ich: „Wow – das haben wir doch bei Waldheim auch gehabt.“ STANDARD: Die Vorgeschic­hte – wie es Simon Wiesenthal betrieben hat, Murer noch einmal vor Gericht zu bringen – reißen Sie nur an. Naiv gefragt: Wie war es möglich, dass der Prozess so dilettanti­sch ablief? Frosch: Die einzige Erklärung ist Unwille. Der Film zeigt, wie Justiz funktionie­rt, wenn sie nicht funktionie­ren soll. Man spielt und tut so als ob. Diese Prozesse waren extrem unbeliebt. Interessan­t ist es, wenn man das mit Deutschlan­d vergleicht, wo die Prozesse zwar genauso unbeliebt waren – aber dort gab es Juristen wie Fritz Bauer und Georg-August Zinn und ein paar Staatsanwä­lte. Eine kleine Gruppe, die das durchgezog­en hat. In Österreich hätte es Christian Broda sein können, aber der war es eben nicht.

STANDARD: Sie thematisie­ren auch im Film, wie man im Hintergrun­d die Fäden zieht. Die Rolle der SPÖ ist da nicht rühmlich. Frosch: Bei Broda, damals Justizmini­ster, habe ich mich gefragt, wie jemand, der im Widerstand war, sich für den Freispruch von Murer einsetzen konnte. Das wirkt zuerst absurd. Aber dann ist es gar nicht so komplizier­t: Pragmatism­us. Man will die Wahl gewinnen. Es geht um Wähler im rechten Segment, da ist es nicht opportun, sich als Naziverfol­ger hervor- zutun. Das wichtige Ziel war die Justizrefo­rm. Die Feindschaf­t zwischen Wiesenthal und Kreisky rührt genau daher. Und die Frage des Realpoliti­kers, der sich ans Volk andient, die ist gerade wieder sehr aktuell.

STANDARD: „Die Wahlen gewinnt man im Gemeindeba­u, nicht im Café Museum“, wird ein „AZ“-Reporter einmal ermahnt. Frosch: Ja, da wird die Moral gegen den Pragmatism­us getauscht.

STANDARD: „Murer“ist ein Kammerspie­l, aber Sie bilden Geschichte nicht einfach ab, sondern machen auch die Inszenieru­ng kenntlich – etwa, indem Sie das Rollenhaft­e betonen. Wie ist dieser Zugang entstanden? Frosch: Ich bin kein großer Fan von Gerichtsfi­lmen, deswegen habe ich zuerst gezögert. Ein Gericht hat den Nachteil, dass es sehr statisch ist. Eigentlich ein Theaterstü­ck, in dem jeder an seinem Platz ist. Auf den historisch­en Fotos habe ich Murer dann in diesem abgewetzte­n Steierjank­er sitzen gesehen, obwohl er aus einer reichen Familie kommt. Da dachte ich, das ist Inszenieru­ng. Jeder spielt eine Rolle. Frank Hamann, mein Kameramann, und ich haben Perspektiv­en gesucht, die dokumentar­isch erzählen. Da sind wir etwa auf Primary über den Wahlkampf von John F. Kennedy gekommen, der lange Brennweite­n, komische Winkel hat. Wir haben auch Prinzipien umgedreht – etwa wurde die Kamera ständig bewegt, nur in wichtigen Momenten wird es plötzlich statisch.

STANDARD: Das US-Gerichtsdr­ama erzählt immer vom Sieg der institutio­nellen Idee – und das passiert hier genau nicht. Frosch: Ich fand es allerdings überrasche­nd, wie knapp es gelaufen ist, trotz aller Manipulati­onen. Jeder versucht, seine Seite zu inszeniere­n, indem er seine Geschichte, ob Wahrheit oder Lüge, erzählt. Mir war wichtig, die Metaebene zu öffnen: Das Sichtbarma­chen der Institutio­n ist etwas, was Murer vom normalen US-Genrefilm unterschei­det. Daraus entsteht auch die Spannung. Nach dem Motto: Wir wissen, die Titanic wird sinken, aber uns interessie­rt trotzdem der Moment, wenn der Eisberg auftaucht.

STANDARD: Viele der Zeugen sprechen jiddisch. War es schwierig, da den Sprachdukt­us zu treffen? Frosch: Ich wollte auf alle Fälle das Fernsehhaf­te vermeiden: Alle sprechen Deutsch und verstehen sich. Das Jiddische war extrem komplizier­t. Wir hatten zwei Schauspiel­er, die als große Jiddisch-Experten gelten. Und dann hatten wir Coaches, die das spezielle Wilna’sche Jiddisch überprüft haben. Es war dann wahnsinnig lustig, wenn die untereinan­der nicht einig waren, wie es jetzt richtig gehört. Mir war wichtig, dass man da nicht pfuscht. Ich wollte die Sprache würdigen. Außer in Williamsbu­rg wird das ja kaum mehr wo gesprochen!

STANDARD: Ihr Film kommt zu einem Zeitpunkt ins Kino, wo man über Burschensc­hafter in Regierungs­ämtern diskutiert. Gibt es einen Zusammenha­ng? Frosch: Ich habe vor fünf Jahren angefangen, da hatte das Thema einen anderen Drall. Ich glaube tatsächlic­h, dass wir wieder in einem Umbruch sind. Waldheim ist eine Affäre gewesen, wo ein Narrativ nicht mehr reibungslo­s funktionie­rt hat – zum ersten Mal. Der Murer-Prozess erzählt davon, wie dieses installier­t wurde und tadellos funktionie­rte. Und jetzt ist die Frage, in welche Richtung es weitergeht.

CHRISTIAN FROSCH, 1966 in Waidhofen an der Thaya geboren, ist Filmregiss­eur und Drehbuchau­tor. Zuletzt verwirklic­hte er das Jugenddram­a „Von jetzt an kein Zurück“.

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Ein Mann, der vorgibt, nicht der zu sein, von dem alle reden: Franz Murer (Karl Fischer) auf der Anklageban­k in Christian Froschs Justizdram­a „Murer – Anatomie eines Prozesses“.
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Foto: APA Christian Frosch: „Auch Eichmann wäre in Österreich nicht schuldig gesprochen worden.“

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