Nato verurteilt Giftanschlag als „Angriff auf Großbritannien“
London weist 23 russische Diplomaten aus – Moskau: Vergeltung
London/Brüssel/Moskau – Nach dem Giftanschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter im südenglischen Salisbury verlangt nun auch die Nato Aufklärung von Moskau. In einer gemeinsamen Stellungnahme zeigten sich die Mitgliedsstaaten am Mittwoch zutiefst beunruhigt über den ersten Einsatz von Nervengas auf dem Gebiet des Verteidigungsbündnisses seit dessen Gründung im Jahr 1949. In dem Papier sprechen die Nato-Partner von einem „rücksichtslosen Angriff auf Großbritannien“, für den „höchstwahrscheinlich“Russland verantwortlich sei.
Zuvor hatte bereits London erklärt, dass Russland hinter dem Anschlag stehe. Moskau hatte in der Nacht auf Mittwoch ein Ultimatum der britischen Regierung verstreichen lassen, in dem die russische Führung aufgefordert worden war zu erklären, wie es zu dem Einsatz des Nervengifts Nowitschok auf britischem Territorium kommen konnte. Nowitschok war einst in der Sowjetunion entwickelt worden.
Als Konsequenz hat die britische Regierung am Mittwoch harte Vergeltungsmaßnahmen gegen Russland verhängt. Wie die britische Premierministerin Theresa May im Parlament verkündete, werden vorerst „alle hochrangigen diplomatischen Kontakte ausgesetzt“. Zudem werden 23 russische Diplomaten aus Großbritannien ausgewiesen. Zur bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft in Russland werden weder Regierungsmitglieder noch Vertreter des britischen Königshauses anreisen.
Die russische Regierung hat bereits Vergeltung für die britischen Strafmaßnahmen angekündigt. Das Außenministerium in Moskau bezeichnete die am Mittwoch von London angekündigten Schritte als „beispiellose grobe Provokation“. (red)
Die Tat
Am 4. März wurden der 66-jährige ExSpion Sergej Skripal und seine 33-jährige Tochter Julija auf einer Parkbank vor einem Einkaufszentrum in der südenglischen Stadt Salisbury bewusstlos aufgefunden. In der Pizzeria wie auch in dem Pub, in dem sich die beiden aufgehalten hatten, wurden Spuren von Nowitschok gefunden – einem früher in der Sowjetunion produzierten Nervengift. Die Gesundheitsbehörde rief Besucher der beiden Lokale dazu auf, ihre persönlichen Gegenstände zu reinigen.
Insgesamt wurden 21 Menschen im Krankenhaus behandelt. Auch ein Polizist wurde mit schweren Symptomen eingeliefert. Untersucht werden danach neben der Pizzeria und dem Pub auch ein Friedhof und das Wohnhaus Skripals. Medien berichteten unter Berufung auf Ermittler, der Polizist sei in Skripals Haus mit dem Gift in Kontakt gekommen. Der Ex-Doppelagent und seine Tochter befanden sich am Mittwoch noch immer in kritischem Zustand.
Skripal soll den britischen Geheimdienst MI6 mit Informationen über russische Agenten in Europa versorgt haben, 2006 wurde er in Russland zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. 2010 kam er im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Großbritannien, wo er unter echtem Namen lebte.
Das Gift
Nowitschok bedeutet übersetzt so viel wie „Neuling“. Es handelt sich dabei um einen binären Kampfstoff aus zwei relativ harmlosen Komponenten, die zusammengemischt durch Reaktion den Giftstoff ergeben. Die zwei getrennten Bestandteile ermöglichen eine dauerhaftere und vor allem sicherere Lagerung. Wie der Kampfstoff VX, mit dem im Vorjahr Kim Jong-nam, der Halbbruder von Nordkoreas Diktator Kim Jong-un ermordet wurde, gehört Nowitschok zu der Verbindungsgruppe der Organophosphate, soll jedoch zehnmal wirksamer als VX sein. Es hemmt in den Zellen den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin durch das Enzym Acetylcholinesterase. Dadurch wird das Acetylcholin sehr rasch massiv angereichert, was schließlich zu einer Atemlähmung führt.
Im Jahr 1992 machte der Chemiker Wil Mirsajanow in einem Zeitungsartikel das geheime Chemiewaffenprogramm der Sowjetunion öffentlich. In der Folge wurde Mirsajanow wegen Hochverrats inhaftiert, 1994 nach einem Prozess jedoch freigelassen. Ihm wurde die Ausreise erlaubt, seither lebt er in den USA.
Für Skripal und seine Tochter besteht wohl keine Hoffnung auf vollständige Genesung, glaubt Mirsajanow: „Es gibt keine Heilung. Es gibt ein Gegengift, aber was macht ein Gegengift? Man rettet eine Person kurzfristig, die dem Gift ausgesetzt war. Man stirbt nicht sofort, aber man bleibt für den Rest des Lebens behindert.“
Die Folgen
Die düsteren Aussichten weckten auch Erinnerungen an die Ermordung des russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko, der 2006 in London radioaktiv vergiftet worden war. Laut britischen Ermittlungen sollen russische Agenten den damaligen Mord auf dem Gewissen haben. Bereits am Tag nach dem Anschlag von Salisbury brachte Außenminister Boris Johnson auch diesmal eine mögliche Verbindung nach Moskau und etwaige Sanktionen ins Spiel.
Der Kreml wies jede Schuld von sich. Der Verdacht habe „ja nicht lange auf sich warten lassen“, hieß es. Als jedoch klar wurde, dass das verwendete Gift in der früheren Sowjetunion entwickelt worden war, verhärteten sich die Fronten. Die britische Premierministerin Theresa May erklärte am Montag, Russland sei „höchstwahrscheinlich“für die Tat verantwortlich. Moskau müsse bis Dienstagabend erklären, wie es zum Einsatz des Nervengifts auf britischem Boden kommen konnte. Andernfalls würde man von „Gewalt des russischen Staates gegen das Vereinigte Königreich“ausgehen und drastische Maßnahmen ergreifen.
Zusätzliches Öl ins Feuer goss am Dienstag die Nachricht, dass ein anderer russischer Exilant tot in London aufgefunden wurde. Nikolai Gluschkow war einst Geschäftspartner des 2013 erhängt aufgefundenen Kreml-Kritikers Boris Beresowski.
Die Reaktion
Nachdem Moskau das britische Ultimatum verstreichen ließ, macht London nun offiziell Russland für den Angriff verantwortlich und weist 23 als Diplomaten getarnte Spione aus. Außerdem sollen neue Finanzmaßnahmen russischen Oligarchen den Zugang zu ihren britischen Konten erschweren. May sprach von einem „nicht deklarierten Chemiewaffenprogramm“, das gegen internationales Recht verstoße.
London werde den Sachverhalt bei der Uno sowie bei der Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag zur Sprache bringen. Den angekündigten Besuch des Moskauer Außenministers Sergej Lawrow in London sagte May ebenso ab wie Besuche von britischen Ministern und von Prinz William bei der bevorstehenden Fußball-WM in Russland.
Die Nato-Staaten äußerten sich am Mittwoch in einer gemeinsamen Stellungnahme beunruhigt über den ersten Einsatz von Nervengas auf ihrem Gebiet seit Gründung des Bündnisses 1949. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte May via Twitter die „volle Solidarität“der Europäischen Union zu.
Der Wahlkampf
Klein beigeben wird Russland in der Affäre jedenfalls nicht. Schon deshalb, weil die Präsidentenwahl vor der Tür steht. Am 18. März will sich Wladimir Putin, der seit 18 Jahren an der Macht ist, für weitere sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Sein Sieg bereits in der ersten Runde gilt als sicher. Trotzdem will der Kreml seine Anhänger so stark es geht mobilisieren. Laut dem Soziologen Andrej Kolesnikow vom CarnegieZentrum ist der mediale Aufruhr um die Vergiftung Skripals zumindest ein gutes Instrument dazu.
Der Vorfall könne – ähnlich wie der Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine 2014 über dem Donbass – die patriotischen Gefühle vieler Russen steigern, so Kolesnikow. Damals hatten russische Medien widersprüchliche Theorien gestreut, um den Eindruck zu erzeugen, es handle sich um ein Komplott. Ähnlich wurde der Ausschluss des russischen Teams bei Olympia wegen zahlreicher Dopingvergehen als Verschwörung des Westens verkauft. Auch im aktuellen Fall deuten viele Kommentare russischer Medien auf das gleiche Argumentationsmuster hin. Dessen Kern: Alle diese Affären dienten nur dazu, Russophobie im Westen zu schüren und weiter auf Russland herumhacken zu können.
Offene Fragen
Ob und wie der Tod des bereits erwähnten Nikolai Gluschkow, dessen Leiche vor kurzem in London entdeckt wurde, auch mit dem Fall Sergej Skripal in Verbindung stehen könnte, ist derzeit Gegenstand von Ermittlungen. Die britischen Behörden jedenfalls wollen insgesamt mehr als ein Dutzend weiterer Todesfälle mit einer möglichen Verbindung nach Moskau erneut untersuchen. Die Fälle reichen zum Teil mehr als zehn Jahre zurück. Darunter ist auch der Tod von Boris Beresowski selbst, dem prominenten Putin-Kritiker und ehemaligen Geschäftspartner Gluschkows.
Unklar ist auch, wie Skripal und seine Tochter eigentlich mit dem Gift in Kontakt gekommen sind. Schmuggelte es jemand in ihr Essen? Steckte es möglicherweise in einem Päckchen oder Geschenk, das Julija Skripal aus Moskau mitbrachte? Oder wurde das Gift per Kurierdienst geliefert?
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