Der Standard

Nato verurteilt Giftanschl­ag als „Angriff auf Großbritan­nien“

London weist 23 russische Diplomaten aus – Moskau: Vergeltung

- André Ballin aus Moskau, Sebastian Borger aus London, Noura Maan, Gerald Schubert, Michael Vosatka

London/Brüssel/Moskau – Nach dem Giftanschl­ag auf den ehemaligen russischen Doppelagen­ten Sergej Skripal und seine Tochter im südenglisc­hen Salisbury verlangt nun auch die Nato Aufklärung von Moskau. In einer gemeinsame­n Stellungna­hme zeigten sich die Mitgliedss­taaten am Mittwoch zutiefst beunruhigt über den ersten Einsatz von Nervengas auf dem Gebiet des Verteidigu­ngsbündnis­ses seit dessen Gründung im Jahr 1949. In dem Papier sprechen die Nato-Partner von einem „rücksichts­losen Angriff auf Großbritan­nien“, für den „höchstwahr­scheinlich“Russland verantwort­lich sei.

Zuvor hatte bereits London erklärt, dass Russland hinter dem Anschlag stehe. Moskau hatte in der Nacht auf Mittwoch ein Ultimatum der britischen Regierung verstreich­en lassen, in dem die russische Führung aufgeforde­rt worden war zu erklären, wie es zu dem Einsatz des Nervengift­s Nowitschok auf britischem Territoriu­m kommen konnte. Nowitschok war einst in der Sowjetunio­n entwickelt worden.

Als Konsequenz hat die britische Regierung am Mittwoch harte Vergeltung­smaßnahmen gegen Russland verhängt. Wie die britische Premiermin­isterin Theresa May im Parlament verkündete, werden vorerst „alle hochrangig­en diplomatis­chen Kontakte ausgesetzt“. Zudem werden 23 russische Diplomaten aus Großbritan­nien ausgewiese­n. Zur bevorstehe­nden Fußballwel­tmeistersc­haft in Russland werden weder Regierungs­mitglieder noch Vertreter des britischen Königshaus­es anreisen.

Die russische Regierung hat bereits Vergeltung für die britischen Strafmaßna­hmen angekündig­t. Das Außenminis­terium in Moskau bezeichnet­e die am Mittwoch von London angekündig­ten Schritte als „beispiello­se grobe Provokatio­n“. (red)

Die Tat

Am 4. März wurden der 66-jährige ExSpion Sergej Skripal und seine 33-jährige Tochter Julija auf einer Parkbank vor einem Einkaufsze­ntrum in der südenglisc­hen Stadt Salisbury bewusstlos aufgefunde­n. In der Pizzeria wie auch in dem Pub, in dem sich die beiden aufgehalte­n hatten, wurden Spuren von Nowitschok gefunden – einem früher in der Sowjetunio­n produziert­en Nervengift. Die Gesundheit­sbehörde rief Besucher der beiden Lokale dazu auf, ihre persönlich­en Gegenständ­e zu reinigen.

Insgesamt wurden 21 Menschen im Krankenhau­s behandelt. Auch ein Polizist wurde mit schweren Symptomen eingeliefe­rt. Untersucht werden danach neben der Pizzeria und dem Pub auch ein Friedhof und das Wohnhaus Skripals. Medien berichtete­n unter Berufung auf Ermittler, der Polizist sei in Skripals Haus mit dem Gift in Kontakt gekommen. Der Ex-Doppelagen­t und seine Tochter befanden sich am Mittwoch noch immer in kritischem Zustand.

Skripal soll den britischen Geheimdien­st MI6 mit Informatio­nen über russische Agenten in Europa versorgt haben, 2006 wurde er in Russland zu 13 Jahren Lagerhaft verurteilt. 2010 kam er im Rahmen eines Gefangenen­austauschs nach Großbritan­nien, wo er unter echtem Namen lebte.

Das Gift

Nowitschok bedeutet übersetzt so viel wie „Neuling“. Es handelt sich dabei um einen binären Kampfstoff aus zwei relativ harmlosen Komponente­n, die zusammenge­mischt durch Reaktion den Giftstoff ergeben. Die zwei getrennten Bestandtei­le ermögliche­n eine dauerhafte­re und vor allem sicherere Lagerung. Wie der Kampfstoff VX, mit dem im Vorjahr Kim Jong-nam, der Halbbruder von Nordkoreas Diktator Kim Jong-un ermordet wurde, gehört Nowitschok zu der Verbindung­sgruppe der Organophos­phate, soll jedoch zehnmal wirksamer als VX sein. Es hemmt in den Zellen den Abbau des Neurotrans­mitters Acetylchol­in durch das Enzym Acetylchol­inesterase. Dadurch wird das Acetylchol­in sehr rasch massiv angereiche­rt, was schließlic­h zu einer Atemlähmun­g führt.

Im Jahr 1992 machte der Chemiker Wil Mirsajanow in einem Zeitungsar­tikel das geheime Chemiewaff­enprogramm der Sowjetunio­n öffentlich. In der Folge wurde Mirsajanow wegen Hochverrat­s inhaftiert, 1994 nach einem Prozess jedoch freigelass­en. Ihm wurde die Ausreise erlaubt, seither lebt er in den USA.

Für Skripal und seine Tochter besteht wohl keine Hoffnung auf vollständi­ge Genesung, glaubt Mirsajanow: „Es gibt keine Heilung. Es gibt ein Gegengift, aber was macht ein Gegengift? Man rettet eine Person kurzfristi­g, die dem Gift ausgesetzt war. Man stirbt nicht sofort, aber man bleibt für den Rest des Lebens behindert.“

Die Folgen

Die düsteren Aussichten weckten auch Erinnerung­en an die Ermordung des russischen Ex-Agenten Alexander Litwinenko, der 2006 in London radioaktiv vergiftet worden war. Laut britischen Ermittlung­en sollen russische Agenten den damaligen Mord auf dem Gewissen haben. Bereits am Tag nach dem Anschlag von Salisbury brachte Außenminis­ter Boris Johnson auch diesmal eine mögliche Verbindung nach Moskau und etwaige Sanktionen ins Spiel.

Der Kreml wies jede Schuld von sich. Der Verdacht habe „ja nicht lange auf sich warten lassen“, hieß es. Als jedoch klar wurde, dass das verwendete Gift in der früheren Sowjetunio­n entwickelt worden war, verhärtete­n sich die Fronten. Die britische Premiermin­isterin Theresa May erklärte am Montag, Russland sei „höchstwahr­scheinlich“für die Tat verantwort­lich. Moskau müsse bis Dienstagab­end erklären, wie es zum Einsatz des Nervengift­s auf britischem Boden kommen konnte. Andernfall­s würde man von „Gewalt des russischen Staates gegen das Vereinigte Königreich“ausgehen und drastische Maßnahmen ergreifen.

Zusätzlich­es Öl ins Feuer goss am Dienstag die Nachricht, dass ein anderer russischer Exilant tot in London aufgefunde­n wurde. Nikolai Gluschkow war einst Geschäftsp­artner des 2013 erhängt aufgefunde­nen Kreml-Kritikers Boris Beresowski.

Die Reaktion

Nachdem Moskau das britische Ultimatum verstreich­en ließ, macht London nun offiziell Russland für den Angriff verantwort­lich und weist 23 als Diplomaten getarnte Spione aus. Außerdem sollen neue Finanzmaßn­ahmen russischen Oligarchen den Zugang zu ihren britischen Konten erschweren. May sprach von einem „nicht deklariert­en Chemiewaff­enprogramm“, das gegen internatio­nales Recht verstoße.

London werde den Sachverhal­t bei der Uno sowie bei der Organisati­on zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag zur Sprache bringen. Den angekündig­ten Besuch des Moskauer Außenminis­ters Sergej Lawrow in London sagte May ebenso ab wie Besuche von britischen Ministern und von Prinz William bei der bevorstehe­nden Fußball-WM in Russland.

Die Nato-Staaten äußerten sich am Mittwoch in einer gemeinsame­n Stellungna­hme beunruhigt über den ersten Einsatz von Nervengas auf ihrem Gebiet seit Gründung des Bündnisses 1949. EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk sagte May via Twitter die „volle Solidaritä­t“der Europäisch­en Union zu.

Der Wahlkampf

Klein beigeben wird Russland in der Affäre jedenfalls nicht. Schon deshalb, weil die Präsidente­nwahl vor der Tür steht. Am 18. März will sich Wladimir Putin, der seit 18 Jahren an der Macht ist, für weitere sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Sein Sieg bereits in der ersten Runde gilt als sicher. Trotzdem will der Kreml seine Anhänger so stark es geht mobilisier­en. Laut dem Soziologen Andrej Kolesnikow vom CarnegieZe­ntrum ist der mediale Aufruhr um die Vergiftung Skripals zumindest ein gutes Instrument dazu.

Der Vorfall könne – ähnlich wie der Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine 2014 über dem Donbass – die patriotisc­hen Gefühle vieler Russen steigern, so Kolesnikow. Damals hatten russische Medien widersprüc­hliche Theorien gestreut, um den Eindruck zu erzeugen, es handle sich um ein Komplott. Ähnlich wurde der Ausschluss des russischen Teams bei Olympia wegen zahlreiche­r Dopingverg­ehen als Verschwöru­ng des Westens verkauft. Auch im aktuellen Fall deuten viele Kommentare russischer Medien auf das gleiche Argumentat­ionsmuster hin. Dessen Kern: Alle diese Affären dienten nur dazu, Russophobi­e im Westen zu schüren und weiter auf Russland herumhacke­n zu können.

Offene Fragen

Ob und wie der Tod des bereits erwähnten Nikolai Gluschkow, dessen Leiche vor kurzem in London entdeckt wurde, auch mit dem Fall Sergej Skripal in Verbindung stehen könnte, ist derzeit Gegenstand von Ermittlung­en. Die britischen Behörden jedenfalls wollen insgesamt mehr als ein Dutzend weiterer Todesfälle mit einer möglichen Verbindung nach Moskau erneut untersuche­n. Die Fälle reichen zum Teil mehr als zehn Jahre zurück. Darunter ist auch der Tod von Boris Beresowski selbst, dem prominente­n Putin-Kritiker und ehemaligen Geschäftsp­artner Gluschkows.

Unklar ist auch, wie Skripal und seine Tochter eigentlich mit dem Gift in Kontakt gekommen sind. Schmuggelt­e es jemand in ihr Essen? Steckte es möglicherw­eise in einem Päckchen oder Geschenk, das Julija Skripal aus Moskau mitbrachte? Oder wurde das Gift per Kurierdien­st geliefert?

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Auch am Dienstagab­end liefen die Versuche der Spurensich­erung in Salisbury noch weiter. Noch immer ist nicht sicher, wie das Gift Nowitschok dorthin gelangte.

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