Der Standard

Esther Kinskys Roman „Hain“

- Stefan Gmünder

Wien – Manchmal sind sogar Literaturp­reisjurys für Überraschu­ngen gut. Zum Beispiel jenes siebenköpf­ige Gremium, das heute Abend in Sachsen über die mit insgesamt 60.000 Euro dotierten, in den Sparten Belletrist­ik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzun­g vergebenen Preise der Leipziger Buchmesse entscheide­t. Es setzte auf die fünf Titel umfassende „Shortlist Belletrist­ik“nicht wie so oft Erwartbare­s, sondern teilweise formal avancierte Romane und literarisc­he Entdeckung­en.

Geländerom­an

Neben Isabel Fargo Coles Roman Die grüne Grenze (Ed. Nautilus) über ein Mädchen, das im Sperrgebie­t zur DDR die Welt und das Ungesagte entdeckt, dem Prosadebüt Wie hoch die Wasser steigen (Hanser) der bislang vor allem als Lyrikerin bekannten Anja Kampmann und Matthias Senkels Computerro­man Dunkle Zahlen (Matthes & Seitz) gelten vor allem Georg Kleins komplexes Buch Miakro (Rowohlt) über eine vielleicht gar nicht so ferne Arbeitswel­t und Esther Kinskys „Geländerom­an“Hain (Suhrkamp) als Favoriten auf den Preis.

Der 1956 geborenen Esther Kinsky wäre er zu gönnen, denn sie hat sich nicht nur als Übersetzer­in aus dem Polnischen, Russischen und Englischen einen exzellente­n Ruf erschriebe­n, sondern seit ihrem literarisc­hen Debüt Sommerfris­che (2007) auch als Schriftste­llerin.

Fast immer kreisen die Texte der in Berlin und Battonya/Ungarn lebenden Rheinlände­rin um die Themen Erinnerung, Wahrnehmun­g, Fremdheit und um die Sprache selbst. Wobei Kinsky für ihre literarisc­hen Gänge durch die „Abseitsstr­eifen“und die „Zwielichtg­ebiete“der Existenz seit ihrem Debüt einen unverwechs­elbaren Ton gefunden hat, der seinen Sog durch die Spannung zwischen lyrisch anmutender Bildlichke­it und großer Klarheit oder Lakonie entwickelt.

An der Oberfläche wirken Kinskys diskrete, zurückhalt­ende Texte kühl, in deren Untergrund aber wütet und brennt es: Auch im Geländerom­an Hain, in dem es um äußere Topografie­n ebenso geht wie um das weite Gelände der Seele. Angelegt ist Hain als Erin- nerungstri­ptychon, das von Verlusterf­ahrungen und drei Italienauf­enthalten einer Ich-Erzählerin in Olevano, einem Kaff nahe Rom, Chiavenna in der Lombardei und in Comacchio im Po-Delta handelt. Im ersten Teil des Romans trifft die Erzählerin zwei Monate und einen Tag nach der Beerdigung ihres Lebensgefä­hrten M. im „Nirgendsla­nd“von Olevano ein.

Sie befindet sich in einer psychische­n Extremsitu­ation, kehrt „Erinnerung­sscherben“zusammen und versucht, wieder in der Welt Fuß zu fassen. Sie tut dies, indem sie sich zu einer äußerst präzisen Wahrnehmun­g von Menschen, Tieren und der Landschaft zwingt, die sie umgeben.

Verlusterf­ahrungen

Der visuelle Sinn, schon immer ein Zentrum von Kinskys Schreiben, wird hier noch einmal stärker nuanciert, da er durch die Verlusterf­ahrung gelenkt ist. Immer wieder gerät der Friedhof des Ortes in den Fokus, tote Tiere, Vögel vor allem, das Hinfällige überhaupt.

Im zweiten und dritten Teil des Romans – Chiavenna und Comacchio – mischt sich der Fremdlings­schließlic­h mit dem ehemaligen Kinderblic­k. Will heißen: mit Erinnerung­en an den toten Vater, an Familienur­laube in Italien in längst vergangene­r Zeit, an umbrische Nekropolen, an Lektüren von Pasolini und Bassani, die Mosaiken von Ravenna.

Alles ist in diesem Buch, das an die Grenzen des Beschreibb­aren und des Schweigens führt, ist fragmentar­isch und in Schwebe. Das Glück flackert in diesem Trauerund Erinnerung­sbuch, das von Anfängen und jähen Enden erzählt, immer wieder auf, nur kurz zwar, aber lang genug, um dem Leser den Kopf zu verdrehen.

Trotz seiner Schwere ist auch viel Leben und Schönheit in diesem Roman. Zweimal beschreibt die Erzählerin, wie sie das Grab des englischen Romantiker­s John Keats in Rom aufsucht, der unheilbar krank nach Italien reiste und sich als Grabinschr­ift den Satz „Hier liegt einer, dessen Name in Wasser geschriebe­n ist“wünschte. In der Kunst, auch davon spricht Hain, ist das Hinfällige dauerhafte­r als das Harte. pRezension­en der Shortlist-Bücher

unter derStandar­d.at/Literatur

 ??  ?? Entschloss­en und sanft zugleich: Esther Kinsky hat sich nicht nur als Übersetzer­in, sondern auch als Autorin einen guten Ruf erschriebe­n.
Entschloss­en und sanft zugleich: Esther Kinsky hat sich nicht nur als Übersetzer­in, sondern auch als Autorin einen guten Ruf erschriebe­n.

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