Der Standard

Mitteleuro­pa 2018

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In den Jahren vor und unmittelba­r nach der Wende von 1989 stand der Begriff „Mitteleuro­pa“in Österreich hoch im Kurs. In unseren Nachbarsta­aten war die Demokratie­bewegung voll im Gange, und die Österreich­er fühlten sich mit deren Bürgern, mit denen sie eine jahrhunder­telange gemeinsame Geschichte teilten, eng verbunden. Das ist heute J vorbei. etzt steht eine andere Frage im Vordergrun­d: Gehören wir eher zu den Visegrád-Staaten, die sich allmählich von der Europäisch­en Union und deren Werten wegbewegen? Oder doch zu den westlichen Kernländer­n der Union? Ist Viktor Orbán, den unsere Regierung so gern hofiert, unser Freund? Oder orientiere­n wir uns lieber an den westlichen Führungspe­rsönlichke­iten Angela Merkel und Emmanuel Macron? Es wächst zusammen, was zusammenge­hört, sagte Willy Brandt einst am Vorabend der deutschen Wiedervere­inigung. Viele wandten dieses Wort auch auf das Wiederzusa­mmenwachse­n des westlichen und des östlichen Europa an. Heute meinen viele: Es strebt auseinande­r, was eben doch nicht wirklich zusammenge­hört. Liberale Demokratie in Frankreich und Deutschlan­d. Illiberale Demokratie in Ungarn und Polen.

Österreich steht in der Mitte. Erhard Busek, lange Zeit so etwas wie der österreich­ische Mitteleuro­päer vom Dienst, sagte vor kurzem im Fernsehen, Europa müsse Verständni­s für die ehemals kommunisti­schen Länder haben. Es brauche eben seine Zeit, bis die Menschen dort ihre autoritäre Vergangenh­eit überwunden hätten. Osteuropa sei in Brüssel zu wenig vertreten, das führe dazu, dass viele Menschen in jenen Ländern sich schlecht behandelt und geringgesc­hätzt fühlten. Da ist etwas dran. Aber kann man die Ostmittele­uropäer wirklich ganz und gar mit ihren Regierunge­n gleichsetz­en? Es gibt dort nämlich, heute wie in kommunisti­schen Zeiten, eine lebendige Zivilgesel­lschaft, die tapfer und beharrlich gegen Demokratie­abbau kämpft.

In Polen gingen Zehntausen­de auf die Straße, als die Justiz gleichgesc­haltet wurde. In Ungarn setzen sich viele Intellektu­elle für die Zentraleur­opäi- sche Universitä­t in Budapest ein, die bei der Regierung in Ungnade gefallen ist. In der Slowakei hat die Ermordung eines Enthüllung­sjournalis­ten Massendemo­nstratione­n gegen die Regierung hervorgeru­fen, die an die Stimmung von 1989 erinnern. Alle diese Protestier­er brauchen europäisch­e Solidaritä­t, nicht zuletzt aus ÖsZ terreich. u Kreiskys Zeiten erhielten die osteuropäi­schen Dissidente­n viel Unterstütz­ung aus Wien, obwohl man auch damals den Kontakt mit den jeweiligen Regierunge­n nicht abreißen ließ. Heute versteht sich Bundeskanz­ler Kurz als Vermittler zwischen Ost- und Westeuropa. Das ist auch gut so. Aber Ungarn ist nicht nur Viktor Orbán, und Polen ist nicht nur Jaroslaw Kaczyński. Wenn die Österreich­er Mitteleuro­päer und Brückenbau­er sein wollen, sollten sie auch diejenigen nicht vergessen, die sich in unseren Nachbarlän­dern für die Werte einsetzen, die den Kern der Europäisch­en Union darstellen: Demokratie, Meinungsfr­eiheit, Menschenre­chte. Wer „Balkanrout­e“sagt, sollte, wenn er als Vermittler ernst genommen werden will, auch „Pressefrei­heit“sagen.

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