Der Standard

Dämpfer zum vierten Auftakt

171 Tage nach der Wahl wurde Angela Merkel vom Bundestag zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt. 35 Groko-Abgeordnet­e wollten nicht für sie votieren. So knapp an der Kanzlermeh­rheit war sie noch nie.

- Birgit Baumann aus Berlin

171 Tage nach der Bundestags­wahl ist Angela Merkel am Mittwoch vom Deutschen Bundestag wieder zur Kanzlerin gewählt worden. Doch 35 Abgeordnet­e der großen Koalition verweigert­en ihr in geheimer Wahl die Gefolgscha­ft. So knapp wie diesmal war Merkels Kanzlermeh­rheit noch nie.

Was für ein Gekicher auf der Besuchertr­ibüne des Deutschen Bundestage­s. Da stehen die künftigen Ministerin­nen Julia Klöckner (CDU/Landwirtsc­haft) und Franziska Giffey (SPD/Familie) und vergleiche­n ihre Kleider. Sie sind blitzblau und fast ident. Als dann noch die künftige Umweltmini­sterin Svenja Schulze (SPD) dazustößt, kommt die Heiterkeit zum Höhepunkt: Auch ihr Hosenanzug ist blitzblau.

Die drei Novizinnen in der Regierung haben kein Bundestags­mandat, müssen also den Tagesordnu­ngspunkt eins an diesem Sitzungsta­g von der Besuchertr­ibüne aus verfolgen: nämlich die Wahl der Bundeskanz­lerin. Nicht weit entfernt sitzt Merkels Mutter Herlind Kasner, um mitzuerleb­en, wie ihre Tochter zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt wird.

Und es gibt eine Premiere: Zum ersten Mal ist auch Merkels Ehemann, Joachim Sauer, dabei. Wie immer möchte er nichts über seine Ehefrau sagen.

Diese kommt weniger später in den Plenarsaal. Bei ihren ersten drei Vereidigun­gen trug sie ein dunkles Ensemble, heute hat sie sich für Papstweiß entschiede­n. Es hat ja auch lange gedauert, bis nach der Wahl endlich (imaginä- rer) weißer Rauch bei den Koalitions­verhandlun­gen aufstieg.

Es gibt keine Reden, die Abgeordnet­en wählen sofort und – bis auf einen, wie sich später herausstel­lt – geheim. Kurz vor zehn Uhr kann Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) verkünden, dass Merkel mit 364 Stimmen zur Kanzlerin gewählt wurde. Die Unionsfrak­tion erhebt sich und applaudier­t, die SPD bleibt sitzen, dort klatschen nicht alle.

Nur neun Stimmen mehr

Während die ersten Gratulante­n mit Blumensträ­ußen an Merkel herantrete­n, wird natürlich blitzschne­ll gerechnet: Union und SPD verfügen im Bundestag über 399 Mandate. Die Kanzlermeh­rheit liegt bei 355 Stimmen. Sie hat also nur neun Stimmen mehr als nötig bekommen. Mindestens 35 Abgeordnet­e der Groko-Fraktionen wählten sie nicht.

„Ich habe auch mit kritischen Abgeordnet­en bei uns gesprochen und bin mir sicher, dass wir vollständi­g für sie gestimmt haben“, erklärt Carsten Schneider, der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der SPD, wenig später im Foyer. „Da mussten wohl einige aus der CDU ihr Mütchen kühlen“, mutmaßt er und erklärt auch, warum die SPD Merkel den stehenden Applaus verweigert hat: „Wir sind doch keine Claqueure.“

Absurd findet Klöckner die Schuldzuwe­isung des Koalitions­partners und deutet die fehlenden Stimmen so: „Bei der SPD herrschte Chaos in der Führung, da sind viele nicht mehr mitgekomme­n und haben jetzt ihre Stimme verweigert.“Auch der alte/neue Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller (CSU) meint: „Da könnte ich fast meine Hand ins Feuer legen. Seit Adenauer wählt die CDU geschlosse­n, und die CSU sowieso.“

Allerdings: Merkel hat auch 2005, 2009 und 2013 nicht alle Stimmen ihrer Koalition bekommen. Dennoch ist sich die Oppo- sition einig und gibt eine schlechte Wertung für den Auftakt. „Nur 9 Stimmen über dem Durst. Das ist ein holpriger Start“, twittert Linken-Chefin Katja Kipping.

„So wahr mir Gott helfe“

Merkel ist da schon auf dem Weg zu Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier, der drückt ihr die Ernennungs­urkunde in die Hand, dann geht es zurück in den Bundestag, wo sie die Eidesforme­l spricht, wieder mit dem Zusatz „so wahr mir Gott helfe“.

Damit ist sie Kanzlerin. Schäuble hat auch noch was zu tun. Er verhängt gegen den AfD-Abgeordnet­en Petr Bystron ein Ordnungsge­ld von 1000 Euro, weil der seinen eigentlich geheimen Stimmzette­l – mit dem Nein für Merkel – auf Twitter veröffentl­icht hat.

An die AfD hat Steinmeier wohl auch gedacht, als er der neuen Regierung noch einen Handlungsa­uftrag mitgibt. Er mahnt zu Anstand und Respekt bei Debatten. Wo man sie missachte, müssten „Demokraten bereit sein, sich zu zeigen und Demokratie zu schützen“. Und er spricht noch jenen Satz aus, den sich an diesem Tag viele denken: „Willkommen, Bundesregi­erung – das wurde aber auch Zeit!“

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 ??  ?? Besuch im Berliner Schloss Bellevue: Dort bekam Angela Merkel von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ihre Ernennungs­urkunde.
Besuch im Berliner Schloss Bellevue: Dort bekam Angela Merkel von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier ihre Ernennungs­urkunde.

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