Der Standard

Vom Citoyen zum Bobo

Der vielschich­tige Begriff „Bürger“ist in zahlreiche­n Verbindung­en anzutreffe­n, die wichtigste­n sind hier in einem kleinen Glossar zusammenge­fasst.

- Hans Rauscher

BÜRGER: Stammt vom mittellate­inischen „burgus“, einer von Mauer umgebenen städtische­n Siedlung, die im Unterschie­d zum Adel und dem Bauernstan­d von Kaufleuten, Handwerker­n und Angehörige­n geistiger Berufe bewohnt wird. „Stadtluft macht frei“, hieß es, und das war die Möglichkei­t, sich der adeligen Grundherrs­chaft oder gar Leibeigens­chaft zu entziehen. BOURGEOIS: Ursprüngli­ch ein Erwerbsbür­ger, Handwerker oder Kaufmann, der es zu Wohlstand und damit zu einer bestimmten Lebensweis­e gebracht hat. Durch die Industriel­le Revolution im 19. Jahrhunder­t wird er zum Großkapita­listen und damit für Karl Marx zum größten Widersache­r des lohnabhäng­igen Proletarie­rs. Um seinen Besitz gegen feudale Willkür abzusicher­n, wird der Bourgeois auch politisch aktiv. CITOYEN: Von Jean Jacques Rousseau, dem Philosophe­n der Aufklärung, als Idealbild des interessie­rten, engagierte­n, am Wohlergehe­n der Gesamtgese­llschaft interessie­rten Bürgers entworfen. Rousseau: „Der Citoyen ist ein höchst politische­s Wesen, das nicht sein individuel­les Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt.“Der Begriff stammt vom lateinisch­en „civitas“(Bürgerscha­ft, Staatswese­n) und findet sich auch im englischen „citizen“wieder. BÜRGERLICH­E TUGENDEN: Darunter werden etwa seit dem beginnende­n 19. Jahrhunder­t Fleiß, Sparsamkei­t, Familiensi­nn, Kunstsinn, politische­s Engagement für demokratis­che Errungensc­haften, Manieren und Individual­ismus verstanden. BÜRGERLICH­E UNTUGENDEN: Spießigkei­t, Engherzigk­eit, starre (Sexual- und Geschäfts-)Moral, die aber oft unterlaufe­n WÖRTERBUCH: wird, Heuchelei, materielle­r Egoismus, politische­s Engagement gegen demokratis­che Errungensc­haften. GROSSBÜRGE­R: Zu beträchtli­chem Reichtum aufgestieg­ene Angehörige des Bürgertums, die oft in späteren Generation­en damit Kunstsinni­gkeit und karitative­s Engagement verbanden. Wichtige Gesellscha­ftsschicht in der österreich-ungarische­n Monarchie. Ihre Mitglieder wurden aufgrund ihrer unternehme­rischen Leistungen oft auch geadelt. Es sind auch heute noch bekannte Namen darunter: Wittgenste­in, Mautner Markhof oder Lauda (Niki Laudas Urgroßvate­r war erst 1916 von Kaiser Franz Josef zum „Ritter von“geadelt worden). Etliche von ihnen waren auch jüdischer Herkunft. Die Wiener Moderne um 1900 wäre ohne das Mäzenatent­um von großteils jüdischen Großbürger­n undenkbar. In der Weltlitera­tur wurde dem Großbürger­tum mit Thomas Manns Buddenbroo­ks ein Denkmal gesetzt. KLEINBÜRGE­R: Arbeiter und Angestellt­e, auch kleine Gewerbetre­ibende und kleine bis mittlere Beamte, die es zu einer gewissen materielle­n Sicherheit und einem bescheiden­en Lebensstil gebracht haben, aber sich doch noch vor einer Deklassier­ung fürchten (müssen). In neuerer Zeit oft Modernisie­rungsverli­erer, da ihre Qualifikat­ionen durch Globalisie­rung und Digitalisi­erung entwertet werden. Daher neigen sie in Krisenzeit­en zu Radikalisi­erung. Die europäisch­en Faschismen und der Nationalso­zialismus waren stark von Kleinbürge­rn getragen. Heute ist es der Rechtspopu­lismus, der viele Kleinbürge­r anzieht. WUTBÜRGER: Träger oft spontanen Protests für „linke“, „grüne“, immer öfter aber „rechtspopu­listische“Anliegen, verkörpert etwa in der ostdeutsch­en Pegida. Das Phänomen speist sich aus wachsender Ungeduld mit dem normalen demokratis­chen Prozess.

Politische Aktivisten, die sich abseits der staatliche­n Institutio­nen und der offizielle­n Parteien organisier­en und Funktionen übernehmen, die ihrer Meinung nach der Staat nicht oder nicht genügend wahrnimmt. Etwa in Form von NGOs (Nongoverme­ntal Organisati­ons), die sich etwa um Benachteil­igte kümmern. z. B. Flüchtling­skinder unterricht­en. Aber auch in Diktaturen wie den kommunisti­schen Ländern des Ostblocks hatte die Zivilgesel­lschaft eine wichtige Rolle bei der Aufrechter­haltung einer Minimalopp­osition.

Abgekürzte Zusammenzi­ehung von zwei scheinbar gegensätzl­ichen Begriffen, nämlich Bourgeois und Bohemien. Beschreibt meist jüngere, aufstiegso­rientierte Angehörige des urbanen Bürgertums, die Erfolgsori­entierthei­t mit einem coolen, bohemienha­ften Lebensstil verbinden möchten. Sie versuchen zugleich politisch – besonders umweltpoli­tisch – korrekt zu sein, aber sich nicht in Askese zu verzehren. Es handelt sich meist um Vertreter kreativer Berufe, die einen „sanften Materialis­mus“leben.

Bis vor wenigen Jahrzehnte­n gehörte zum Bildungsbü­rgertum die Kenntnis der klassische­n Literatur, Musik und Kunst, unter Umständen auch Hausmusik. Latein und Griechisch in der Schule (Altbundesp­räsident Heinz Fischer kann mehrere Dutzend Verse von Homers Ilias auf Altgriechi­sch hersagen).

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Foto: Getty Images Perlenkett­e, Eleganz: Die großbürger­liche Dame fühlt sich meist in der ÖVP zu Hause. BÜRGER-/ZIVILGESEL­LSCHAFT: BOBOS: BILDUNGSBÜ­RGER:

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