Vom Citoyen zum Bobo
Der vielschichtige Begriff „Bürger“ist in zahlreichen Verbindungen anzutreffen, die wichtigsten sind hier in einem kleinen Glossar zusammengefasst.
BÜRGER: Stammt vom mittellateinischen „burgus“, einer von Mauer umgebenen städtischen Siedlung, die im Unterschied zum Adel und dem Bauernstand von Kaufleuten, Handwerkern und Angehörigen geistiger Berufe bewohnt wird. „Stadtluft macht frei“, hieß es, und das war die Möglichkeit, sich der adeligen Grundherrschaft oder gar Leibeigenschaft zu entziehen. BOURGEOIS: Ursprünglich ein Erwerbsbürger, Handwerker oder Kaufmann, der es zu Wohlstand und damit zu einer bestimmten Lebensweise gebracht hat. Durch die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert wird er zum Großkapitalisten und damit für Karl Marx zum größten Widersacher des lohnabhängigen Proletariers. Um seinen Besitz gegen feudale Willkür abzusichern, wird der Bourgeois auch politisch aktiv. CITOYEN: Von Jean Jacques Rousseau, dem Philosophen der Aufklärung, als Idealbild des interessierten, engagierten, am Wohlergehen der Gesamtgesellschaft interessierten Bürgers entworfen. Rousseau: „Der Citoyen ist ein höchst politisches Wesen, das nicht sein individuelles Interesse, sondern das gemeinsame Interesse ausdrückt.“Der Begriff stammt vom lateinischen „civitas“(Bürgerschaft, Staatswesen) und findet sich auch im englischen „citizen“wieder. BÜRGERLICHE TUGENDEN: Darunter werden etwa seit dem beginnenden 19. Jahrhundert Fleiß, Sparsamkeit, Familiensinn, Kunstsinn, politisches Engagement für demokratische Errungenschaften, Manieren und Individualismus verstanden. BÜRGERLICHE UNTUGENDEN: Spießigkeit, Engherzigkeit, starre (Sexual- und Geschäfts-)Moral, die aber oft unterlaufen WÖRTERBUCH: wird, Heuchelei, materieller Egoismus, politisches Engagement gegen demokratische Errungenschaften. GROSSBÜRGER: Zu beträchtlichem Reichtum aufgestiegene Angehörige des Bürgertums, die oft in späteren Generationen damit Kunstsinnigkeit und karitatives Engagement verbanden. Wichtige Gesellschaftsschicht in der österreich-ungarischen Monarchie. Ihre Mitglieder wurden aufgrund ihrer unternehmerischen Leistungen oft auch geadelt. Es sind auch heute noch bekannte Namen darunter: Wittgenstein, Mautner Markhof oder Lauda (Niki Laudas Urgroßvater war erst 1916 von Kaiser Franz Josef zum „Ritter von“geadelt worden). Etliche von ihnen waren auch jüdischer Herkunft. Die Wiener Moderne um 1900 wäre ohne das Mäzenatentum von großteils jüdischen Großbürgern undenkbar. In der Weltliteratur wurde dem Großbürgertum mit Thomas Manns Buddenbrooks ein Denkmal gesetzt. KLEINBÜRGER: Arbeiter und Angestellte, auch kleine Gewerbetreibende und kleine bis mittlere Beamte, die es zu einer gewissen materiellen Sicherheit und einem bescheidenen Lebensstil gebracht haben, aber sich doch noch vor einer Deklassierung fürchten (müssen). In neuerer Zeit oft Modernisierungsverlierer, da ihre Qualifikationen durch Globalisierung und Digitalisierung entwertet werden. Daher neigen sie in Krisenzeiten zu Radikalisierung. Die europäischen Faschismen und der Nationalsozialismus waren stark von Kleinbürgern getragen. Heute ist es der Rechtspopulismus, der viele Kleinbürger anzieht. WUTBÜRGER: Träger oft spontanen Protests für „linke“, „grüne“, immer öfter aber „rechtspopulistische“Anliegen, verkörpert etwa in der ostdeutschen Pegida. Das Phänomen speist sich aus wachsender Ungeduld mit dem normalen demokratischen Prozess.
Politische Aktivisten, die sich abseits der staatlichen Institutionen und der offiziellen Parteien organisieren und Funktionen übernehmen, die ihrer Meinung nach der Staat nicht oder nicht genügend wahrnimmt. Etwa in Form von NGOs (Nongovermental Organisations), die sich etwa um Benachteiligte kümmern. z. B. Flüchtlingskinder unterrichten. Aber auch in Diktaturen wie den kommunistischen Ländern des Ostblocks hatte die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung einer Minimalopposition.
Abgekürzte Zusammenziehung von zwei scheinbar gegensätzlichen Begriffen, nämlich Bourgeois und Bohemien. Beschreibt meist jüngere, aufstiegsorientierte Angehörige des urbanen Bürgertums, die Erfolgsorientiertheit mit einem coolen, bohemienhaften Lebensstil verbinden möchten. Sie versuchen zugleich politisch – besonders umweltpolitisch – korrekt zu sein, aber sich nicht in Askese zu verzehren. Es handelt sich meist um Vertreter kreativer Berufe, die einen „sanften Materialismus“leben.
Bis vor wenigen Jahrzehnten gehörte zum Bildungsbürgertum die Kenntnis der klassischen Literatur, Musik und Kunst, unter Umständen auch Hausmusik. Latein und Griechisch in der Schule (Altbundespräsident Heinz Fischer kann mehrere Dutzend Verse von Homers Ilias auf Altgriechisch hersagen).